Die Weihnachtserzählung des Lukas beginnt mit der Volkszählung, die Kaiser Augustus veranlasst. Diese Volkszählung ist historisch zweifelhaft. Theologisch macht sie aber durchaus Sinn, wie schließlich die Weihnachtsberichte nicht zuerst biografisch, sondern theologisch zu lesen ist. Lukas schildert keine geschichtlichen Fakten, sondern möchte den Lesern zum Auftakt des Evangeliums erklären, wer dieser Jesus Christus ist, dessen Gemeinschaft die frühen Christen bilden. Lukas ist einer von ihnen. So beginnt er mit dem großen Herrscher der Weltgeschichte, mit Kaiser Augustus, unter dessen Führung sich das Römische Reich in einer Blütezeit befand.
Octavian, der später „Augustus“ genannt wurde, war zunächst Teil eines Triumvirats, also einer von drei Herrschern, die das von den Römern eroberte Gebiet unter sich aufgeteilt hatten. Durch Krieg und Politik war es ihm gelungen, seine Mitherrscher zu besiegen und das ganze Reich unter seiner Herrschaft zu vereinen. Zu seinem Herrschaftsbereich gehörten neben Italien, Spanien und Gallien nun auch die Provinz Asien (Kleinasien, Syrien, Palästina) und die nordafrikanischen Provinzen. Um das Jahr 0, also das Jahr, das wir als Geburtsjahr Christi annehmen, stand der Kaiser auf dem Höhepunkt seiner Macht. In der von ihm angeordneten Volkszählung möchte Augustus offenbar statistisch erheben, wer und wie viele auf dem Gebiet des römischen Reiches wohnen. Der Begriff „Volkszählung“ ist dabei nicht ganz korrekt. Schließlich bestand das römische Reich aus vielen ethnischen Völkern. Lukas berichtet, dass „pasan ten oikumenen“, also „alle auf dem Erdkreis“ sich einschreiben sollen. Hier wird offenbar die ganze Weltbevölkerung gezählt. Der Kaiser möchte wissen, wer zu ihm gehört, wer alles sein „Volk“ ist.
Lukas verfolgt für sein Evangelium eine Absicht. Er möchte zeigen, dass diese Zugehörigkeit des „Weltvolks“ zum römischen Kaiser durch eine neue Zugehörigkeit zum Reich und Volk Gottes, das vom Messias (Jesus Christus) regiert wird, abgelöst werden wird. Der wahre Herrscher des Erdkreises wird in Betlehem geboren. Die Evangelien verhandeln die Frage, wer eigentlich zu diesem Volk gehört, wer also zur neuen Herrschaft Gottes zu zählen ist. Die Geburt Christi bildet den Auftakt, die symbolische Vorausnahme dessen, was sich als Sammlung des endzeitlichen Gottesvolkes im Lauf des Wirkens Christi und nach seiner Auferstehung vollziehen wird.
Wer also gehört zum „Volk“? In der griechischen Sprache und im griechischen Denken, das den Evangelisten nicht fern ist, gibt es für das deutsche Wort „Volk“ drei unterschiedliche Begriffe. Die Sprache des neuen Testaments unterscheidet zwischen „demos“, „ethne“ und „ochlos“. „Demos“ ist das Staatsvolk, also die Gruppe der Inhaber des Bürgerrechts. „Ethne“ meint das Volk als kulturelle Gruppe, die sich auf eine gemeinsame Abstammung, Religion, Sprache und Kultur beruft. „Ochlos“ ist das Volk verstanden als „Volksmenge“, auch im Sinne des „einfachen Volkes“. Durch die Zusammenfassung der drei Begriffe unter einem entsteht im Deutschen, aber auch anderen Sprachen eine Schwierigkeit, die durch alle Jahrhunderte Probleme bereitet hat. Wer ist mit „Volk“ gemeint? Die drei Bedeutungen lassen sich gegeneinander ausspielen. Es ist möglich, den drei Bedeutungen eine exklusive Gültigkeit zu geben. Jede Definition von „Volk“ ist anfällig für je eigene Formen des Populismus. Unter Populismus möchte ich die aus meiner Sicht überzeugende allgemeine Definition verstehen, die vor Kurzem der Politologe Kolja Möller gegeben hat. Populismus ist eine politische Position, die zwischen „Volk“ und „Eliten“ unterscheidet.[1] Man könnte noch grundlegender sagen, eine Position, die genau definiert, wer zum Volk gehört und wer nicht. Als solche ist der Populismus nicht unüblich. Wir finden ihn auch in der Bibel – doch dazu später mehr.
Wer ist „das Volk“? Im juristischen Bereich scheint die Sache relativ klar zu sein. Ich habe einmal einen Staatsrechtler danach befragt. Er sagte mir, dass mit dem „Volk“ das „Staatsvolk“ gemeint sei, also die Summe aller Menschen, die als Staatsbürger oder Staatsbürgern gleichgestellt gelten. In diesem Sinn ist „Volk“ der „demos“ im Sinne einer Rechtsgemeinschaft. Für das römische Reich der Zeit des Augustus gehörte in diesem Sinne nur ein kleiner Teil der Bevölkerung zum „römischen Volk“. Die vollen Bürgerrechte waren vor allem den männlichen Bürgern der Stadt Rom gegeben. Dies bedeutete, dass sie nach einem anderen Rechtssystem beurteilt wurden, Wahlrecht besaßen und weniger Steuern zahlen mussten. Ein eingeschränktes Bürgerrecht konnten entlassene Sklaven erwerben oder „Ausländer“ die in den römischen Hilfstruppen Militärdienst geleistet hatten. Das Bürgerrecht konnte außerdem auf Fürsprache einflussreicher Römer verliehen oder erkauft werden. Mit einer Volkszählung allein des „demos“ wäre man relativ schnell vorangekommen. Maria und Josef zumindest hätten sich nicht registrieren lassen müssen.
Die Bewohner des römischen Reiches waren also eine im rechtlichen Status ungleiche Gesellschaft. Damit war es gerade in den Provinzen naheliegend, zwischen den römischen Eliten mit ihren Privilegien und dem normalen Volk der Nicht-Römer zu unterscheiden. Die Römer wurden als Besatzer wahrgenommen, die durch Militär und Verwaltung den eroberten Volksgruppen ihre Herrschaft aufdrängten. Immer wieder gab es Ansätze für lokale Befreiungsgruppen, die Fremdherrschaft zu beenden und die Römer zu besiegen. Auf der anderen Seite brachte die römische Verwaltung an vielen Orten auch Verbesserungen bei Infrastruktur, Wohlstand und Verwaltung mit sich. Der Monty Python-Film „Life of Brian“ greift den Grundkonflikt satirisch auf, als sich in einer Szene die verschiedenen jüdischen Befreiungsgruppen über die Frage, was die Römer „uns gebracht haben“ in Widersprüche verheddern, weil ihnen als Antwort eigentlich nur positive Dinge einfallen. Doch dies ist natürlich nur ein Film. Die Römer waren durchaus zurecht für eine rigide Ordnungspolitik und eine Finanzpolitik auf Kosten der Provinzen gefürchtet und teilweise verhasst.
Das jüdische Volk ist innerhalb des Römischen Reichs eine klassische „ethne“. Jude wurde man durch Geburt. Israel verstand sich als „Gottes Volk“, das sich durch den gemeinsamen Glauben an den einen Gott und durch das gottgegebene Gesetz der Thora verbunden wusste. Doch ganz einig war man sich wohl nicht. Das Evangelium gibt Einblick in eine gespaltene Gesellschaft: Ein guter Teil der „Volksgenossen“ nahm es mit der jüdischen Religion und Tradition nicht so ernst. Als sogenannte „Hellenisten“ hatten sie den griechisch-römischen Lifestyle für sich übernommen. Die religiösen Erweckungsbewegungen, wie etwa die Pharisäer, sahen es als ihre Aufgabe, das Volk wieder neu auf seine religiösen Wurzeln und damit auf die Thora zu verpflichten. Wer nicht das Gesetz Gottes möglichst buchstabengetreu verfolgte, war im Sinne seiner „wahren“ Volkszugehörigkeit verdächtig. Das Volk Israel war hier also mehr als eine Gemeinschaft der jüdisch Geborenen. Wer „Jude“ war musste sich auch durch die Praxis der jüdischen Religionen und Traditionen „jüdisch“ leben.
Der Gedanke der „ethne“ als Volksgemeinschaft ist lebendig geblieben. Das 19. Jahrhundert mit seinen nationalstaatlichen Bewegungen gilt uns heute als Musterbeispiel für dieses Denken. Es stellte beginnend mit der Romantik den Versuch dar, das Staatsvolk, den „demos“ durch eine gemeinsame Zugehörig zur „ethne“ zu definieren. Es ist die große Zeit der Besinnung auf vermeintlich gemeinsame sprachliche, kulturelle und religiöse Wurzeln. So definierte man z.B., was „urdeutsch“, „urfranzösisch“ oder „urslawisch“ ist, auch, um sich von anderen Staaten und ihrer Bevölkerung abzusetzen. Die Berufung auf das „gemeinsame kulturelle Erbe“ lebt bei der Bestimmung, wer zum Volk gehört und wer nicht, in den unterschiedlichsten Nuancen fort. So gibt es den wiederkehrenden Disput um eine „Leitkultur“, die alle in einem Staat lebenden Menschen übernehmen müssen.
In den neuen nationalistischen Strömungen, die sich auf der ganzen Welt beobachten lassen, wird die Volkszugehörigkeit im identitären Sinn (aufgrund der kulturellen Zugehörigkeit) neu verhandelt. In ihrer populistischen Variante unterscheidet man auf der einen Seite zwischen „Einheimischen und Fremden, die nicht dazu gehören“. Damit geht häufig auch ein bestimmter Elitengedanke einher, der behauptet, die „anderen“ würden vom Staat privilegiert behandelt und gegenüber den Einheimischen (dem eigentlichen Volk) bevorzugt. Auf der anderen Seite macht der nationalistische Diskurs auch die „Internationalisten“ als Feinde aus, Organisationen, Einzelpersonen oder Gruppen, welche die nationalen Eigenheiten des „Volkes“ aushebeln und bekämpfen und so die Menschen ihres „natürlichen“ kulturellen Ursprungs berauben möchten. In ihrer Extremform werden daraus Verschwörungsmythen, u.a. der Antijudaismus, der im 19. und 20. Jahrhundert maßgeblich in dieser Form universalistischer Elitenkritik auftrat und leider auch heute wieder auftritt.
Die „Elitenkritik“ ist die sicher bekannteste Form des Populismus und ist politisch „rechts“ wie „links“ weit verbreitet. Nach dem ersten Wahlsieg Donald Trumps in den Vereinigten Staaten befasste sich der meistgeklickte Artikel des Wahljahres mit der Analyse des Politikwissenschaftlers Mark Lilla (der übrigens nicht zum Trump-Lager zählte).[2] Lilla sah Trumps Erfolg als Ergebnis einer Politik, die den gesellschaftlichen Minderheiten eine zu große Aufmerksamkeit geschenkt habe. Die intellektuellen Eliten des Landes der großen amerikanischen Universitäten hätten durch ihre übertriebene Wokeness die Politik bestimmt (Gender-, Rassismus-, Umwelt-, Gerechtigkeitsfragen). Das „normale“ Volk habe sich so in seinen Anliegen nicht mehr repräsentiert gefühlt und sei somit offen für die Erzählung von der „abgehobenen Politikerkaste in Washington“ gewesen. Mit anderen Worten: Die demokratischen Repräsentanten sind elitär geworden und machen Politik gegen den „eigentlichen“ Willen und die „eigentlichen“ Bedürfnisse des Volkes. Das „Volk“ ist hier im Sinne des „ochlos“, also der Mehrheit der „normalen Leute“ verstanden. Diese Erzählung ist äußerst populär. Sie findet sich biblisch häufig in den Prophetenschriften, in denen die politischen Eliten als ungläubig, korrupt unmoralisch verkommen dargestellt werden.
Karl Marx war in dieser Hinsicht äußerst populistisch unterwegs.[3] Seine philosophische Mission war es, das „Volk“ aus seiner „ethne“- Bedeutung zu lösen und die gemeinschafts- und kulturbildenden Grundlagen inklusive der Religion zu vorübergehenden und irrelevanten Erscheinungsformen des Geistes zu erklären. In Marx’ materialistischem Weltbild sollte nur die „strenge Wissenschaft“ gelten lassen. Unter dieser verstand er eine evolutionsbiologisch grundierte Geschichtswissenschaft. In seiner „ideologischen Nacktheit“ ist „ethne“ bei Marx in Wirklichkeit „ochlos“, die sich fortpflanzende und arbeitende Bevölkerung, der von den Eliten ein ideologisches Bewusstsein von Zugehörigkeit zu einer Kultur oder Religion zum Zweck der Herrschaft aufgeschwatzt worden ist. Die „Befreiung“ des „ochlos“ aus seinem ideologischen Entfremdungszustand liegt dann im Kampf gegen die wirtschaftlichen, politischen, philosophischen und religiösen Eliten, die auf je ihre eigene Weise entmachtet werden müssen. Frei ist erst das sich selbst verwaltende Volk, der „ochlos“.
Soweit einige Streifzüge durch die Geschichte und Aktualität. Kommen wir zur Weihnachtserzählungen der Evangelien zurück. Wie verstehen sie das „Volk“, das sich durch das Heilswerk Gottes neu als „Volk Gottes“ im Herrschaftsbereich des Messias verstehen wird? Die Frage ist nicht eindeutig zu beantworten. Die Evangelien weichen in gewisser Weise den gängigen Bestimmungen aus. Zunächst ist die Herkunft Jesu ethnisch bestimmt. Jesus ist ein Kind des jüdischen Volkes, Sohn einer jüdischen Mutter. Josef ist ein Angehöriger des Stammes Juda, aus dem die jüdischen Könige, vor allem David, hervorgegangen sind. Die Verwurzelung Jesu in der jüdischen Geschichte macht das Matthäusevangelium durch die Aufzählung des Stammbaums Jesu unmissverständlich deutlich (Mt 1,1-17). Auch der wunderbare Eingriff Gottes in diese Geschichte durch das Wirken des Geistes ist in dieser jüdischen Geschichte zwar einzigartig, aber nicht ohne Vorbild (bei Isaak, Samson oder Johannes dem Täufer). Als zweites treten bei Lukas die Repräsentanten des „ochlos“ in Gestalt der Hirten in Erscheinung. In der Logik des Lukas ist hier die Hinwendung Jesu zu den marginalen und marginalisierten Gliedern des Volkes präfiguriert. Bei Matthäus wird die „ethne“-Zugehörigkeit Jesu durch das Auftreten der Weisen aus dem Orient relativiert. Hier handelt es sich weder um Vertreter der „ethne“, noch des „ochlos“. Matthäus nimmt in der Weihnachtsperikope die universalistische Ausrichtung des endzeitlichen Gottesvolkes vorweg. Hier ist nicht bloß der Messias Israels zu finden, sondern inkarniert sich Gott in seinem universalen Heilswillen, wie es der Prophet Jesaja über die Endzeit vorausgesagt hat. Das Gegenbild dazu ist der verstockte König Herodes, der im übrigen auch nicht zur jüdischen „ethne“ gehört. Bei Lukas ist der Gedanke der „ethne“-sprengenden Bedeutung Jesu in der Erzählung von der Darstellung im Tempel zu finden, wo der greise Simeon Jesus als Licht für Israel und die Nationen erkennt (Lk 2, 31f.). In der folgenden Szene präsentiert Lukas den zwölfjährigen Jesus im Tempel als „Sitz der göttlichen Weisheit“, der den intellektuellen und religiösen Eliten überlegen ist.
Die Erneuerung des Gottesvolkes vollzieht sich im Laufe des Evangeliums in dieser Form weiter. Die Zugehörigkeit zum Volk geht über die Abstammung aus dem jüdischen Volk hinaus (s. die samaritanische Frau, der „barmherzige Samariter“, der römische Hauptmann). Zudem entzieht sich die Zugehörigkeit zum Gottesvolk der sozialen Zugehörigkeit, wenn es auch eine deutliche Präferenz für das „einfache Volk“ gibt und es Reiche und Mächtige laut Jesu Worten schwer haben, in das Himmelreich zu gelangen. Für die Gemeinschaft Jesu die später durch das Kreuzesopfer als Bundesopfer konstituiert wird, ist vor allem der Glaube an Gott, der sich in Jesus Christus offenbart maßgeblich. Als weiteres Kriterium tritt dann die Taufe hinzu, die sakramental als Neugeburt in die „ethne“ des Gottesvolkes verstanden wird. „Wer glaubt und sich taufen lässt, wird gerettet; wer aber nicht glaubt, wird verurteilt werden.“ (Mt 16,16). Der Epheserbrief versteht später das „Volk Gottes“ an einer Stelle vom „demos“ her. Die Stelle aus Eph 2 ist bemerkenswert. Paulus schreibt an die nicht-jüdischen Christen in Ephesus:
Erinnert euch also, dass ihr früher von Geburt Heiden wart und von denen, die äußerlich beschnitten sind [Angehörige des Volkes Israel], Unbeschnittene genannt wurdet. Zu jener Zeit wart ihr von Christus getrennt, der Gemeinde Israels fremd und von dem Bund der Verheißung ausgeschlossen; ihr hattet keine Hoffnung und lebtet ohne Gott in der Welt. Jetzt aber seid ihr, die ihr einst in der Ferne wart, in Christus Jesus, nämlich durch sein Blut, in die Nähe gekommen. Denn er ist unser Friede. Er vereinigte die beiden Teile und riss die trennende Wand der Feindschaft in seinem Fleisch nieder. Er hob das Gesetz mit seinen Geboten und Forderungen auf [kulturelle Zugehörigkeit zur jüdischen „ethne“], um die zwei [Heiden und Juden] in sich zu einem neuen Menschen zu machen. Er stiftete Frieden und versöhnte die beiden durch das Kreuz mit Gott in einem einzigen Leib. Er hat in seiner Person die Feindschaft getötet. Er kam und verkündete den Frieden: euch, den Fernen, und Frieden den Nahen. Denn durch ihn haben wir beide in dem einen Geist Zugang zum Vater. Ihr seid also jetzt nicht mehr Fremde und ohne Bürgerrecht, sondern Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes.
Das Volk Gottes sprengt in dieser Passage die Grenzen der „ethne“. Durch den Geist, also die Gemeinschaft im Glauben und die sakramentale Gemeinschaft, werden nun auch die Heiden zu vollwertigen Mitgliedern des Gottesvolkes und erwerben (nach römischem Vorbild) das Bürgerrecht. Das Blut des Kreuzesopfers wird als „Lösegeld für viele“ (Eph 1,17) bezeichnet. Hier wird das Bild des Sklaven aufgenommen, der aus der Sklaverei freigekauft wird und so die Bürgerrechte erhält. In dieser Linie wird das „Volk Gottes“ zum „demos“, dessen Mitglieder durch Glaube und Taufe die vollen Rechte erhalten.
Der biblische Befund ist also nicht eindeutig. Die neutestamentlichen Schriften entziehen sich einer klaren Deutung. Im Laufe der Kirchengeschichte wird sich allerdings zeigen, dass die Bestimmung des „Volkes Gottes“ als Kirche, sowie die Kriterien der Zugehörigkeit immer wieder unklar sind. Auch die genannten Populismen im Sinne einer Unterscheidung zwischen „denen die drinnen“ und „denen die draußen“ sind, schwanken. Markante Stationen waren etwa der frühchristliche Streit um die „Abgefallenen“ in der Verfolgungszeit, die Handhabung der christlichen Bußpraxis und des Katechumenats, die Reformation, der Umgang mit den Völkern der neu „entdeckten“ Kontinente, der Jansenismus, das Erste und das Zweite Vatikanische Konzil, die beiden Konzilien, die sehr verschieden zwischen den Polen des Heilexklusivismus und des Heilsuniversalismus entschieden haben. In den Kirchendiskussionen der heutigen Zeit spielt die Erzählung von den „Eliten“ und dem „Kirchenvolk“ ebenfalls eine große Rolle. Diese Bewegungen wären allerdings differenzierter an einer anderen Stelle noch einmal aufzuzeigen. In einem zumindest ist sich das Christentum einig geblieben: Die Zugehörigkeit zum Volk Gottes sprengt die nationalen, ethnischen und sozialen Grenzen, die ein „Volk“ definieren können.
[1] Kolja Möller, Volk und Elite, Berlin 2024, 20-31.
[2] S. Karl-Heinz Ott, Verfluchte Neuzeit, München 2022, 74ff.
[3] S. dazu Möller, 215-222; Quante/Schweikart (Hg.), Marx Handbuch, Stuttgart 2016, 160-170.