Das Kamel – oder: Der Kreislauf der Zeit [zum Advent]

Zum Advent rundet sich die Zeit. Mit dem Anbruch des neuen Kirchenjahrs beginnt das, was wir als Kinder in einem Adventslied in der Kirche gesungen haben „Warten auf Gottes Sohn, das ist der Advent“. Dieses Warten ist – was ich damals noch nicht wusste – in zweierlei Hinsicht gemeint. Auf der einen Seite ist der Advent natürlich die Zeit des Zugehens auf das Weihnachtsfest. Das erwartete Kind von Betlehem soll auf die Welt kommen. Auf der anderen Seite ragt aber ein anderes Kommen Christi in den Advent hinein. In einem Gebet aus dem Messbuch für die Adventszeit heißt es: „In seinem [Christi] ersten Kommen hat er sich entäußert und ist Mensch geworden [Weihnachten]. So hat er die alte Verheißung erfüllt und den Weg des Heiles erschlossen. Wenn er wiederkommt [!] im Glanz seiner Herrlichkeit, werden wir sichtbar empfangen, was wir jetzt mit wachem Herzen gläubig erwarten.“[1] Das zweite Kommen Jesu ist das am Ende der Zeiten. Folgerichtig sind die Lesungen der letzten Sonntage des Jahreskreises, vor allem das Christkönigsfest, mit dem ersten Adventssonntag inhaltlich eng verbunden. Diese eschatologische (endzeitliche) Klammer sorgt nicht selten für Irritationen. Statt in eine heimelige Zeit der Erwartung einzusteigen, konfrontieren uns die Evangelien, die am ersten Advent gelesen werden, mit Jesu Reden zum Weltende, so wie am letzten Sonntag der Abschnitt aus dem Lukasevangelium (Lk 21, 25-36). Mit dem zweiten Adventssonntag gelingt dann ein geschichtlicher Übergang. Es wird von Johannes dem Täufer berichtet. Die Zeit des Täufers ist eine Zeit der endzeitlichen Erwartung. Gott wird kommen und das Volk aus der Dunkelheit von Unterdrückung, Bedrängnis, Sünde und Tod befreien. Die geschichtliche Situation von damals spielgelt sich in unserer eigenen Situation. Die Zeiten des Gerichtes, die Kriege und Katastrophen sind schließlich beständige Wegbegleiter. Die Lösung der innerweltlichen Geschichte liegt außerhalb ihrer selbst, in der Initiative Gottes, der den Unheilsweg des menschlichen Daseins beenden möchte.

Fast scheint es so, als befinde sich die Geschichte also in einem Kreislauf. Dazu trägt das Kirchenjahr mit seiner Wiederholung der Heilsgeschichte von Jesu Geburt bis zur Geistsendung und schließlich der Endzeitverheißung bei. Letztere wandelt sich wieder in die Erwartung der Geburt. Alles bleibt offenbar gleich. Ein solches Zeitverständnis in der Welt der Mythologien nicht selten. Im biblischen Buch Kohelet scheint dies auf. Kohelet, eine Art weltentzogener Prophet, besieht das Geschehen auf der Erde und stellt die ewige Wiederholung des menschlichen Tuns im Guten wie im Schlechten fest. Bei Kohelet hat es den Eindruck, als ob er die Welt und den Bereich Gottes trennen würde. Gott wirkt hier wie der zwar Allmächtige, aber im Weltlauf Abwesende. Nur im Glauben ist ein Ausweg über den ewigen Kreislauf der Welt gegeben, der allerdings dann eine gewisse „Weltdistanz“ mit sich bringt: „Lasst die Erde sein, wie sie ist, konzentriert euch auf das Überirdische!“ Auch manche Paulus-Stelle enthält diesen Imperativ.

Die griechische Philosophie hatte die Lehre vom Kreislauf der Zeit für sich bereits erarbeitet. Alles wiederholt sich. Der Mensch ist Teil eines Spiels der Geschichte, die in ihrem Lauf im Grunde nichts Neues bereithält. Von den Stoikern ist diese Idee hinsichtlich ihrer Auswirkungen etwas abgemildert worden. Die Wiederholungen des Weltlaufes gleichen sich nur in ihrem Prinzip, lassen aber Variationen zu. Gegen eine solche Vorstellung wehren sich die frühen christlichen Theologen. Ihren Einspruch werden wir später noch sehen.

Zunächst ist es interessant, dass die Lehre von der ewigen Wiederkehr immer wieder einmal im westlichen Denken zu finden ist. Ihr prominentester Vertreter ist vielleicht Nietzsche. Er ist wie sein Vorläufer Schopenhauer vom fernöstlichen Denken beeinflusst und nimmt im Grunde eine buddhistische Umdeutung der westlichen Denktradition vor.

Nietzsche entwirft eine Welt ohne Gott.[2] Die Vorstellung eines linearen Fortschreitens der Zeit und damit eines geschichtlichen Fortschritts, in dem der Mensch eine Rolle zu spielen hat, wird von ihm verworfen. Damit fällt auch der religiöse Anspruch der menschlichen Moral in seiner Absolutheit weg. Der Weltlauf bleibt sich gleich, das menschliche Mühen darin im Grunde ohne Wirkung. Es ist sinnlos, sich durch eine jüdisch-christliche Ordnung, die ein Voranschreiten der Geschichte erwartet, in seiner freien Entfaltung einschränken zu lassen. Wahre Freiheit erlangt der Mensch erst, wenn er sich kraft seines eigenen Willens über den Weltlauf erhebt, also das Sinnlose seines Tuns erkennt und sich davon unabhängig macht (und damit zum „Übermenschen“ wird). Nietzsche beschreibt diesen Prozess in „Also sprach Zarathustra“ als eine Wandlung. Der Mensch unter dem Anspruch des „Gesetzes“, also des moralisch-religiösen Anspruches, der versucht, die Gebote zu erfüllen, gleicht dem Kamel, das schwer beladen durch die Wüste geht. Es trägt willig den Ballast einer unsinnig gewordenen Ordnung. Dieses „Kamel“ wandelt sich in der Loslösung des eigenen Willens von seinen „Lasten“ zum „Löwen“ und damit zum souveränen Herrscher seiner selbst. Er erlangt so Unabhängigkeit und Freiheit vom Lauf der Welt. Er wird zum Gestalter der Welt. Dann aber nennt Nietzsche noch eine weitere Verwandlung zur menschlichen Vollkommenheit. Aus dem „Löwen“ soll ein „Kind“ werden. Nietzsche fragt:

„Was vermag noch das Kind, das auch der Löwe nicht vermochte? […] Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginn, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen. Ja, zum Spiele des Schaffens, meine Brüder, bedarf es eines heiligen Ja-sagens: Seinen Willen will nun der Geist, seine Welt gewinnt sich der Weltverlorene.“[3]

Das Kind ist für Nietzsche die Verkörperung des souveränen Menschen, der sich selbst, das Leben, die Welt aus der Situation des weltvergessenen Spiels begreift. Der Mensch ist so ein reiner Zweck in sich selbst, der Souverän über dem Treiben der Welt. Im Grunde, so würde ich vermuten, spielt hier die Idee des Buddhismus eine Rolle, der den Weg in den Zustand eines reinen, unabhängigen Seins durch Meditation lehrt. Der so gesehen „Weise“ hat sich aus dem Weltlauf herausmeditiert und steht diesem Weltlauf gegenüber, ohne sich von ihm im Inneren noch berühren lassen zu müssen. Hermann Hesse – auch so ein westlicher Buddhist – hat die Idee Nietzsches von der Kindwerdung im Spiel in seinem Roman „Das Glasperlenspiel“ in eine literarisch zugängliche Form übersetzt.

Was also ist falsch am „ewigen Kreislauf“ der Welt? Die jüdische und christliche Tradition vertritt schließlich eine fundamental andere Sichtweise. Origenes, einer ganz frühen Theologen, setzt sich anhand der griechischen Philosophie mit dem „mythischen“ Zeitverständnis auseinander. Er verweist in einem ersten Schritt auf die Ungereimtheiten einer solchen Lehre. Solle man tatsächlich annehmen, dass im Weltenlauf einschneidende Ereignisse, wie etwa die Geburt Jesu sich in jeder Weltepoche wiederholen würde? Müsste das Volk Israel in jedem Zeitalter wieder neu durch die Wüste wandern? Wenn wir davon ausgehen, dass die Welt als solche „gut“ geschaffen ist – was wäre es dann für eine Vorstellung von Gott, wenn er nicht versuchen würde, auf seinen Wege den durch die Sünde so verhängnisvollen Lauf der Welt wieder in das „Gute“ zurückzuführen.[4] Genau das meint „Erlösung“. Die Erlösung ist keine Selbsterlösung des Individuums. Wäre sie eine solche, dann würde der Rest der Welt verloren gehen. Die Erlösung wäre eine Disziplin weniger Akrobaten, denen es gelingt, sich innerlich aus dem Weltlauf herauszurotieren. Der Rest der Schöpfung wäre verloren gegangen. Johannes Chrysostomus bezeichnet daher die Lehre vom Kreislauf der Dinge als Geschwätz.[5] Wer aufhört, an Gott als Herrn und Hoffnungspunkt der Geschichte zu glauben, gibt die Welt dem Zufall und der Willkür preis. Genau dies geschieht bei Nietzsche. Chrysostomus sagt: „Nachdem du dich selbst der Hilfe Gottes beraubt hast [man könnte auch sagen, nachdem du die Existenz Gottes aus deinem Leben gestrichen hast], dich verraten und der Vorsehung entzogen hast lenkt der Teufel deine Angelegenheiten und gestaltet sie, wie er will.“ Chrysostomus sieht daher im Glauben das Gegenmittel zum Verhängnis der Welt, um den Menschen und die Schöpfung als Teil der Heilsgeschichte zum „Guten“ und im letzten zur Erlösung zu führen. Es ist daher sinnlos, anzunehmen, das sich Erschaffung und Vernichtung des Menschengeschlechts immer wieder wiederholen könnten, wie Augustinus anmerkt.[6] Dies würde bedeuten, dass Gott die in sich gute Schöpfung immer wieder verwerfen würde. Die Geschichte wäre dann ein immer wieder neu aufgehäufter „Müllberg“ menschlicher und geschöpflicher Existenz, eine heillose und im Grunde verratene Masse, verstrickt in ein sinn- und wertloses Tun.

Die Botschaft des Advents vom Kommen Gottes ist daher eine Erinnerung an den göttlichen Willen, die Schöpfung zu erlösen, sie gegen alle Widerstände auf einem guten Weg weiterzuführen. Das Ereignis der Menschwerdung Gottes ist dabei ein Meilenstein und Wendepunkt auf diesem Weg. Dieser Weg ist aber nicht abgeschlossen. Die Erlösung ist noch längst nicht überall Wirklichkeit. Die Zeichen des Gerichts und der Bedrohung sind noch nicht verschwunden. Daran erinnert der erste Adventssonntag mit seinem Ausblick auf das Ende der Zeiten.

Nietzsche hatte den gläubigen Menschen mit dem Kamel verglichen, das als braves Lasttier noch keine Unabhängigkeit des Willens, noch keine Freiheit erreicht habe. In Wirklichkeit, so würde ich es aus dem Glauben heraus sagen, transportiert das Kamel eine teure und kostbare Last von Etappe zu Etappe, Glaube Hoffnung und Liebe, die durch die Zeiten nicht verlorengehen sollen. Und zugleich sagt der christliche Glaube auch die Bestimmung zum Kindsein mit aus. Das freie Spiel des Kindes ist nämlich nur möglich, wenn es sich seinerseits von der Liebe und vom Schutz der Eltern geborgen weiß. Genau diese Verheißung ist im göttlichen Kind, das uns als Kinder annimmt mitgegeben. Die Welt wird erst in diesem Rahmen der Liebe zu Gott, dem Menschen und der ganzen Schöpfung zu einem Ort, auf dem sich die Pilgerschaft zum Besseren wirklich vollziehen kann.  

Beitragsbild: Astronomische Uhr im Straßburger Münster (Ausschnitt)      


[1] Präfation vom Advent 1

[2] S. für das Folgende auch: Medard Kehl, Eschatologie, Würzburg 1996, 346-355.

[3] Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1. Teil, „Von den drei Verwandlungen“.

[4] Origenes, Gegen Celsus, Buch IV, Kapitel 67ff.

[5] Johannes Chrysostomus, Matthäuskommentar, 15. Homilie.

[6] Augustinus, Der Gottesstaat, Buch XII, Kapitel 18.

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