Die vergangen Tage waren von politischen Fragen geprägt. In den Vereinigten Staaten wurde ein neuer Präsident gewählt. In Deutschland ist die Regierung auseinandergefallen. In den Gesprächen der letzten Tage ging es bei mir viel um die Fragen, die mich und viele von Ihnen bewegen. Wie geht es jetzt weiter? Wie beurteilen wir, was passiert ist. Was werden die Regierungswechsel für Auswirkungen auf die drängenden Fragen der Gegenwart haben? Wie geht es jetzt im Krieg in der Ukraine weiter oder im Nahen Osten? Wie kann sich die Wirtschaft wieder erholen? Welchen Einfluss werden populistische Strömungen und Parteien in den nächsten Monaten auf das Geschehen in unserem Land nehmen?
Ich habe mir auch noch eine ganz grundsätzliche Frage gestellt: Was erwarte ich eigentlich von einer Regierung? Was darf man realistisch von ihr erwarten? Mir geht ein Gedanke nach, den ich kürzlich in einem Buch eines Politikwissenschaftlers gelesen habe. In dem Buch ging es um die Entstehung und die unterschiedlichen Formen des Populismus.[1] Dabei wird „Populismus“ nicht ausschließlich negativ verstanden. Populismus im klassischen Sinn heißt, dass eine Partei oder ein politischer Führer sagen: Ich weiß, was euch als Bevölkerung in Wirklichkeit bewegt und ich verspreche euch Abhilfe für Eure Probleme. Ich mache eine Politik, die sich ganz am Volkswillen orientiert, für den ich ein Sprachrohr bin. Dieser Grundgedanke hat, so die These, in letzter Zeit eine gewisse Verschiebung erfahren. Er beobachtete, dass die Regierung zunehmend daran gemessen wird, dass sie die Menschen in Ruhe lässt. Bei vielen, so die Diagnose, gebe es ein Bedürfnis, nach Möglichkeit nicht regiert zu werden. Der Staat soll mich in Ruhe lassen und vor allem dafür sorgen, dass die Voraussetzungen geschaffen werden, dass ich möglichst große individuelle Freiheit haben kann. Ich möchte viele Rechte haben, aber nur wenige Pflichten. Ich möchte viel empfangen, ohne dafür allzu viel geben zu müssen.
Jetzt geht es ja in einer Predigt nicht um Politik, sondern um das Evangelium. Religiöse und gesellschaftliche Fragen sind nicht genau zueinander übertragbar. Sie sind aber auch nicht komplett unterschiedlich.
Im Evangelium (Mk 12, 38-44) wird geschildert, wie Jesus mit seinen Jüngern im Vorhof des Tempels sitzt, wo das Geld für die Spenden und Opfergaben gesammelt wird. Dabei kommen sehr unterschiedliche Leute, Reiche, die viel geben, aber eben auch Arme. Eine Witwe tut zwei kleine Münzen in den Kasten. Jesus bewertet diese Gabe nicht nach ihrer Höhe, sondern setzt sie in das Verhältnis zu den Großspenden der anderen. Sie haben etwas von ihrem Überfluss gegeben, die Witwe aber alles, was sie hat. Dieses Wort bleibt im Evangelium unkommentiert stehen. Es kann sein, dass Jesus hier auf seine eigene Lebenshingabe anspielt, es kann sein, dass er das Opfer der Witwe in Kontrast zum heuchlerischen Verhalten der Schriftgelehrten setzt.
Interessant ist doch, dass die Szene am Tempel unseren gängigen Empfindungen zuwiderläuft. Nach unserem Verständnis ist es doch nicht richtig, dass die Witwe so viel gibt. Sie müsste viel eher empfangen. Man erwartet eine Belohnung, etwa, dass die Reichen ihr nach ihrer Spende das gespendete Geld ersetzen oder, dass Jesus ihr dafür etwas Gutes tut. Aber davon ist nicht die Rede. Alle geben. Alle geben, die Frage ist nur, ob sie in dem Maß geben, wie es ihnen möglich ist, oder, ob sie unter den Erwartungen bleiben oder sie übererfüllen.
„Sie hat alles gegeben“ – diesen Satz hören wir heute noch im Sport. Hat eine Sportlerin, ein Sportler, eine Mannschaft ihre Möglichkeiten ausgereizt, ist sie an die Grenze ihres Leistungsvermögens gegangen? – Dann wird ihr oder ihm auch bei einer Niederlage kein Vorwurf gemacht. Haben sie ihr Potential nicht ausgeschöpft, sind die Fans unzufrieden, selbst wenn es noch zu einem Sieg gereicht hat.
Im normalen Leben ist das häufig anders – das kenne ich auch von mir selbst: „Das sollen jetzt mal die anderen machen“, „Darum kann sich auch mal ein anderer kümmern“, „Es ist gut, wenn Menschen sich für dieses oder jenes einsetzen – ich habe dafür aber keine Zeit“, „Warum sollte ich Geld geben, es gibt so viele Leute die reicher sind als ich – sollen die erst einmal ihren Beitrag leisten.“ Es stimmt ja – Menschen haben sehr unterschiedliche Möglichkeiten und Fähigkeiten. Es gibt immer Probleme, die nicht von mir selbst gelöst werden können. Das Evangelium führt allerdings vor Augen: Jeder kann geben. Die Bedeutung der Gabe hängt nicht an ihrer Höhe und Bedeutung. Aber eine Gesellschaft, die sich aufteilt in solche, die geben und solche, die empfangen, hat es schwer.
Das gilt offenbar auch für das Reich Gottes, das Jesus verkündet. In ihm können auch die Armen und Verfolgten selig sein. In ihm zählt die Gabe der armen Witwe mehr als die Gabe der Reichen.
Ich habe neulich in einem Trauergespräch einen schönen Satz gehört. Ein Sohn erzählte von seiner Mutter. Er sagte: „Sie war ein guter Mensch. Und wissen Sie, um einen guten Menschen sammeln sich andere.“ Das finde ich sehr treffend. Sie können den Satz einmal für Ihre eigenen Erfahrungen und Begegnungen mit anderen Menschen durchspielen. Wir beschreiben eine gelungene Beziehung ja mit Worten wie: „Dieser Mensch hat eine Ausstrahlung“, „Dieser Mensch gibt mir etwas“, „Dieser Mensch bereichert mich“ – Manchmal kann man gar nicht genau sagen, was es ist. Dagegen steht der Mensch, bei dem ich den Eindruck habe, dass „etwas von mir will“, dass „er mich (über)fordert“, dass „anspruchsvoll“ ist (also seine Ansprüche gegen mich einfordert), bei dem ich den Eindruck habe, dass ich ihm immer „etwas schuldig bin“.
In der Logik des Evangeliums spielt das „Geben“ eine wichtige Rolle. „Umsonst habt ihr empfangen, umsonst sollt ihr geben“ (Mt 10,8). Gott selbst ist Geben. Der Sohn ist Hingabe. Der Geist Gabe. Nachfolge ist Gabe und Hingabe aus dem Beschenktwerden durch Gott – von jedem nach seinen Fähigkeiten und Potentialen. Das Evangelium von der armen Witwe ist vielleicht als Lehrstück zu sehen, im Leben nicht unter seinen Möglichkeiten zu bleiben.
[1] Kolja Möller, Volk und Elite – Eine Gesellschaftstheorie des Populismus, Berlin 2024.
Das hässliche Wort „Populismus“ (populistische Parteien/populistische Strömungen usw.), sollte man vermeiden. Denn die Deutungshoheit über diesen Begriff hat unstrittig die politische Linke gesetzt, und zwar, sehr übel negativ. Da hilft auch keine Quellenangabe auf einen Autor, so ich es seinen Aktivitäten entnehme, der eben jener politischen Linken angehört. Ferner wird der Begriff angewandt, ohne den damit stigmatisierten Betroffenen nennen zu müssen. Denn jeder weiß, was und wer damit gemeint ist. Der so Stigmatisierte hat keine/wenig Möglichkeit sich zu wehren, da er ja nicht explizit genannt wird. Mich erinnert das an jene Zeit, wo durch Verlesung von Hirtenbriefen von der katholischen Kanzel herab, die (Helmut Schmidt-)SPD als für Christen nicht wählbar bezeichnet wurde, ohne die SPD zu nennen (nachzulesen in: „Der Spiegel“, 1980, „Das ist geistliche Nötigung“). Außerdem gilt für jeden, auch für jeden in der Römisch-Katholischen Kirche, immer noch: „Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein“. Welche „politische Strömung“ ist denn nicht populistisch unterwegs?
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