Dilexit nos

Irgendwie ist ja immer für alles gesorgt. Gerade, wenn es um die soziale Hilfe geht, leben wir zum Glück in einer Gesellschaft, die die menschliche Not mit bedenkt. Es gibt eine Vielzahl von staatlichen Hilfen, eine Vielzahl von privaten Initiativen und Angeboten, ein Netzwerk von Beratungsstellen, Bildungseinrichtungen und Therapiemöglichkeiten. Wer Hilfe sucht, kann sie meist auch bekommen, vorausgesetzt, es gelingt ihm, den oft undurchdringbaren Dschungel der Sozialgesetzgebung, des Antragswesens und der unterschiedlichen Hilfsangebote zu durchdringen. Der soziale Staat hat einen hohen bürokratischen Preis.

Im Evangelium begegnen wir einer im Vergleich dazu sehr altertümlichen Art der Hilfe. Jesus, der mit den Jüngern in Jericho unterwegs ist, erregt die Aufmerksamkeit des blinden Bettlers Bartimäus. Der beginnt, nach Jesus zu rufen. Er hat die Hoffnung und Überzeugung, Hilfe bekommen zu können und seinen Bettlerstatus zu überwinden. Die Leute reagieren darauf erst einmal abweisend. Bartimäus appelliert an das Erbarmen Jesu. Er fragt nicht einfach nur nach Hilfe. Aus Erbarmen zu helfen, bedeutet, ungeschuldet zu helfen. Es ist in gewisser Weise eine Hilfe unter Auslassung der Formalitäten. Bartimäus wünscht sich eine Hilfe, die sofort gegeben wird und aus dem Antrieb eines mitleidigen Herzens kommt, das sich der fremden Not nicht verschließen kann und möchte. Jesus öffnet sich dieser Bitte. Bartimäus begegnet der ungeschuldeten Zuwendung Jesu und antwortet darauf mit seinem ungeschuldeten Glauben an Jesus als Retter und Sohn Gottes.

Papst Franziskus hat letzte Woche eine Enzyklika veröffentlicht. Dieses Ereignis fand weitgehend ohne größeres Echo in den Medien statt. Das hat auch einen Grund. Die Enzyklika mit dem Titel „Dilexit nos“ („Er hat uns geliebt“) befasst sich mit der Herz-Jesu-Verehrung, also einer Frömmigkeit, die vielen Zeitgenossen so nichts sagt. Es geht Franziskus aber um einen wichtigen Punkt. Er setzt die Logik des Herzens Jesus einer Logik des Marktes entgegen. Das christliche Glauben und Handeln folgt der Logik, wie sie die Begegnung von Jesus mit Bartimäus charakterisiert. Es geht um ungeschuldeten Glauben und Hingabe. Es geht um die existentielle Erkenntnis der Liebe und Hingabe Gottes, die zum Maßstab des eigenen Lebens werden soll. Logik des Herzens ist eine, die der Logik des Marktes, der Planungen, Gesetze und Regelungen entgegensteht. Der Papst schreibt:

„Heute ist alles käuflich und bezahlbar, und es scheint, dass Sinn und Würde von Dingen abhängen, die man durch die Macht des Geldes erwirbt. Wir werden getrieben, nur anzuhäufen, zu konsumieren und uns abzulenken, gefangen in einem entwürdigenden System, das uns nicht erlaubt, über unsere unmittelbaren und armseligen Bedürfnisse hinauszusehen. Die Liebe Christi steht außerhalb dieses abartigen Räderwerks, und er allein kann uns von diesem Fieber befreien, in dem es keinen Platz mehr für eine bedingungslose Liebe gibt. Er ist in der Lage, dieser Erde ein Herz zu verleihen und die Liebe neu zu beleben, wo wir meinen, die Fähigkeit zu lieben sei für immer tot.“[1]

Das sind starke Worte, die vielleicht etwas zu romantisch oder naiv wirken, werden sie doch in Welt hineingesprochen, die so ganz anders funktioniert. Aber Franziskus meint es ernst. Er sieht auch in der Kirche die Gefahr, sich immer wieder dem von ihm beschriebenen Ungeist anzupassen.[2] Es ist für ihn die Versuchung, auch in der Kirche alles planen und regeln zu wollen, die Kirche nach den Gesetzen des Marktes und der Gesellschaft zu gestalten, mit anderen Worten: herzlos zu werden.

Ich tue mich gerade schwer damit, das so zu sagen. Die Worte des Papstes sind für mich ganz aktuell ein Stachel im Fleisch. Gerade in der letzten Woche haben wir mit dem Kirchenvorstand zusammengesessen. Wir haben eine große Krise zu bewältigen. Die neuen Finanzvorgaben des Bistums haben zur Folge, dass wir als Pfarrei in den nächsten Jahren viel weniger Geld zur Verfügung haben werden. Der Haushalt schrumpft auf weniger als die Hälfte zusammen. Wir haben natürlich geschaut, was wir tun können: Sparen, wo es geht, neue Einnahmequellen erschließen, Haushaltssperre, Ersparnisse aufbrauchen – das ganze Programm. Wie soll man dort noch in herzlicher Weise miteinander umgehen?

Ich habe dabei zwei Regungen. Zum einen ärgere ich mich über den herzlosen Umgang des Bistums mit den Pfarreien, die nun alle mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Zum anderen frage ich mich auch, wieweit ich selbst und auch eine ganze Pfarrei zu sehr daran gewohnt ist, dass alles schon irgendwie organisiert ist und in gleichen Bahnen weiterläuft. Auch wir sind es doch gewohnt, alles zu regeln, alles zu klären, unsere Strukturen immer weiter fortzuschreiben. In gewisser Weise sind wir selbst auch so gestrickt, wie Papst Franziskus es beschreibt. Wie wir im Sinne des „herzlichen Handelns“ weiter vorgehen können, ist mir noch nicht klar. Das alles wird uns in den nächsten Monaten noch sehr bewegen. Im Augenblick fühle ich mich eher in der Rolle des Bartimäus, der das Erbarmen braucht, als in der Rolle Jesu, der bereitwillig geben kann.

Es ist nicht für alles gesorgt. Offenbar ist die Fähigkeit des offenen Herzens gerade immer mehr gefragt, ein neues Vertrauen, Glauben und Erbarmen-Finden in schweren Zeiten in unserer Gesellschaft, aber eben auch in der Kirche, deren gewohnte Gestalt gerade schmerzhaft vergeht. Der Ausblick ist offen. Diese Ungewissheit ist unangenehm, aber vielleicht mit Blick auf das Evangelium mehr die Regel als die Ausnahme.    


[1] Dilexit nos, Nr. 218. Der gesamte Text der Enzyklika hier: https://www.vatican.va/content/francesco/de/encyclicals/documents/20241024-enciclica-dilexit-nos.pdf

[2] S. z.B. Dilexit nos, Nr. 87f., 137.

2 Kommentare zu „Dilexit nos

  1. Vielen Dank für Ihre ehrliche Einschätzung. Ich kenne Stimmen, die sagen, es müsse etwas zu Grunde gehen. Damit ist gemeint, auf den Grund, zurück zum Ursprung gehen. Das ist bei der Amtskirche so. In manchem christlichen Orden ist es auch so. Das viele Gold und die schönen Gebäude oder prächtigen Bilder in den Kirchen haben vielleicht verwöhnt. Dabei hat die Kirche ja nicht diese Produkte zu verkaufen, sondern eigene nur ein Produkt: die Frohe Botschaft. Dieses Produkt und Kapital muss sie in den Mittelpunkt stellen. Das geht nur durch und mit Liebe und nicht mit Haushaltsplänen und Organisationsblasen. Die Kirche Jesu Christi lebt von den Armen für die Armen. Davon bin ich schon lange überzeugt!

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    1. Und mir fallen auch noch einige Sparmöglichkeiten beim Erzbistum ein, die nicht die Gemeinden so direkt treffen würden …

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