Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen. Als die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) in der letzten Woche die sogenannte „Forum-Studie“ zum Ausmaß der sexuellen Gewalt gegen Kinder und Jugendliche veröffentlichte, war das Echo in katholischen Kreisen zwiespältig. In das Bedauern und die Bestürzung über die hohe Zahl der Missbrauchsfälle insgesamt mischte sich auch eine gefährliche Genugtuung, dass es in der evangelischen Kirche eben auch nicht anders sei als in der katholischen. Ein solches Gefühl ist unangebracht. Zu sehr lastet die Schwere des Versagens in der Frage des Schutzes von Kindern und Jugendlichen auf beiden Institutionen.
Die evangelische Studie hatte gemäß der schlagzeilentauglichen Zahlen von Missbrauchsfällen und -Tätern ein ähnliches Ausmaß an Missbrauchsfällen wie in der katholischen Kirche ermittelt. Die EKD-Studie sprach von über 9300 Betroffenen im Zeitraum zwischen 1946 und 2020, sowie von 3500 Beschuldigten.[1] Die MHG-Studie, die im Auftrag der Bischofskonferenz für die deutschen Bistümer erstellt und 2018 veröffentlicht wurde, zählte im Zeitraum 1946-2014 rund 3700 Betroffene und 1700 Beschuldigte. Die Zahlen allein führen allerdings zu vorschnellen Schlüssen. Die beiden Studien unterscheiden sich. Bei der katholische MHG-Studie wurden die Personalakten von rund 38 000 Priestern, Ordensleuten und Diakonen ausgewertet. Die evangelische Studie befasste sich neben den Pastoren und anderen „Pfarrpersonen“ auch mit Missbrauchsfällen in kirchlichen Einrichtungen und mit Missbrauchsfällen durch Ehrenamtliche. Hier wurden in den 19 Landeskirchen vor allem die Disziplinarakten gesichtet, also solche Akten, in denen bekannte Missbrauchsfälle und ihre Sanktionierung dokumentiert worden waren. Im Ergebnis hatte diese Durchsicht eine Zahl von 2200 Betroffenen und 1250 Beschuldigten ergeben, davon rund 42% evangelische Amtsträger. Das Forschungsteam der Forum-Studie zeigte sich enttäuscht darüber, dass nur in einer Landeskirche auch die Personalakten systematisch durchgesehen wurden. Das Ergebnis dieser Landeskirche offenbarte, dass ohne die Durchsicht der Personalakten rund 60% der Beschuldigten und 75% der Betroffenen nicht ermittelt worden wären.[2] Die Forscher rechneten daher die wahrscheinliche Quote bei Durchsicht der Personalakten mit ein und kamen so auf die oben erwähnten Zahlen. Die 9300 Betroffenen sind somit eine geschätzte Zahl. Um die evangelische und die katholische Studie miteinander vergleichen zu können, müssten also die 42% der Gesamtzahl bei den evangelischen Amtsträgern den katholischen Klerikern gegenübergestellt werden. Man käme dann auf etwas über 4000 Betroffene und rund 1500 Beschuldigte. Die Zahl wäre also ähnlich wie in der katholischen Kirche (3700 und 1700). Das Ergebnis der EKD-Studie zeigt auch, dass in der katholischen Kirche eine erhebliche Anzahl von Missbrauchstaten in katholischen Einrichtungen und Pfarreien, die von Nicht-Klerikern begangen wurden, noch nicht systematisch erfasst sind.
Alle diese Zahlen verdeutlichen im Kern eine Grundeinsicht: Das Ausmaß der sexuellen Gewalt an Kindern und Jugendlichen ist in beiden Kirchen erstaunlich ähnlich. Dies hätte man vor der EKD-Studie so nicht annehmen können. Die evangelische Kirche selbst war offensichtlich von niedrigeren Zahlen ausgegangen. Wie die Studie zeigt, war das Selbstbild der Evangelischen Kirche ein anderes. Dort dokumentierte Interviews mit Kirchenverantwortlichen zeichnen das Bild einer Kirche, die sich als partizipativ, gewaltfrei und hierarchiearm versteht.[3] Möglicherweise, so die Forscher, habe gerade diese öffentlich geteilte Wahrnehmung der evangelischen Einrichtungen als „sichere Räume“ Bedingungen geschaffen, die Tätern sexuellen Missbrauch wegen der Undenkbarkeit seines Vorkommens erleichterte.[4] Stärker als in der katholischen Kirche ist zumindest zu sehen, dass der größte Anteil der bekannten Fälle von Übergriffigkeiten und Missbrauch aus den 70er und 80er Jahren gemeldet wurde, einer Zeit, in der eine Distanzlosigkeit und größere sexuelle Freizügigkeit gewissermaßen zum pädagogischen Standard gehörte. In der katholischen Kirche lag der größte Anteil der bekannten Fälle meist etwas früher (50er/60er Jahre).
Institutionell wurde das Problem „Missbrauch“ von den evangelischen Leitungsverantwortlichen wohl unterschätzt. Die EKD-Studie beklagt, dass eine umfangreichere Bewegung zur Aufarbeitung, Prävention und ein strukturelle Einbindung der Stimmen Betroffener erst seit 2018 zu beobachten ist, ungefähr sieben Jahre, nachdem die katholische Kirche im Zuge der öffentlichen Skandale in dieser Hinsicht tätig geworden ist. Die Forscher bemängeln gerade im Bereich der Prävention, aber auch der Aktenführung noch größere bestehende Defizite.[5]
Vergleicht man die evangelische und die katholische Studie, wird gerade wegen der Unterschiede in den beiden Kirchen deutlicher, wo die Hauptursachen des Missbrauchs zu finden sind. Hierin ist die nun vorliegende Dokumentation eine große Hilfe. Lange lief die Diskussion in der katholischen Kirche auf die Reform struktureller Bedingungen hinaus, die man für den Missbrauch verantwortlich machte. Diese Diskussion ist weiter notwendig, hatte doch die MHG-Studie mögliche missbrauchsbegünstigende kirchenspezifische Faktoren benannt. Mit Blick auf die evangelische Studie, wird man die Wirksamkeit von Veränderungen von Weihezulassung, synodalen Strukturen und Priesterausbildung bezogen auf die Missbrauchsthematik noch einmal überdenken müssen (so sehr man sie auch aus anderen Gründen wünschen mag). 2018 äußerte sich der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Bischof Wolfgang Huber in einem Interview: „Für sexuellen Missbrauch gibt es bei uns nicht dieselben strukturellen Voraussetzungen wie in der katholischen Kirche – Stichworte: hierarchische Struktur, Autoritätsverhältnisse, Pflichtzölibat, Sexualmoral.“[6] Huber sprach für die evangelische Kirche von „Einzelfällen“. Das damit suggerierte Bild: Die katholische Kirche leistet strukturell Vorschub zum Missbrauch, die evangelische nicht. Diese Sichtweise muss angesichts der EKD-Studie nun revidiert werden. Auch die evangelischen Strukturen haben den Missbrauch nicht verhindert. Die Dynamik des Verdrängens und Wegsehens ist in ihr genauso präsent gewesen, wie in der katholischen Kirche. Und ein weiterer bislang bestehender Verdacht muss ebenfalls hinterfragt werden. Prominent hat ihn Bernhard Meuser, selbst Missbrauchsopfer in der katholischen Kirche, in seinem Buch „Freie Liebe“ geäußert. Er merkte kritisch die überaus hohe Zahl homosexueller Übergriffe und Missbräuche an, die die MHG-Studie festgestellt hatte (80% der Betroffenen war männlich). Meusers Anfrage war, ob die katholische Kirche nicht in erster Linie Probleme mit homosexuellen Priestern habe.[7] Die Forum-Studie ergab, dass auch in der evangelischen Kirche zwei Dritteln der Betroffenen männlich sind, obwohl fast alle der Beschuldigten männlich und der größere Teil von ihnen (heterosexuell) verheiratet sind oder zum Tatzeitpunkt waren.
Aus meiner Sicht ergibt sich mit Blick auf die beiden Studien so folgendes Bild:
- Missbrauch in der Kirche ist kein in erster Linie konfessionelles Phänomen
- Die Verfehlungen im falschen Schutz der eigenen Institution, in der Verdrängung und Vertuschung des Problems, in einer falschen Milde gegenüber Angeschuldigten und einer mangelnden Aufmerksamkeit den Betroffenen gegenüber sind in beiden Kirchen zu finden. Konfessionsspezifisch gibt es dabei jeweils Faktoren, die im Sinne einer strukturellen Veränderung besonders untersucht werden müssen. Die Kirchen haben gemeinsame, aber auch spezifische „blinde Flecken“ aufzuarbeiten.
- Die Studien zeigen, dass Missbrauch sehr häufig aus besonderen Vertrauensverhältnissen entsteht und über Abhängigkeitsverhältnisse verdeckt und vertuscht wird. Es entstehen zudem in Einrichtungen, Familien und Gemeinden Netzwerke des Schweigens, die Täter schützen. Die Missbrauchsprävention sollte sich diesem Phänomen in besonderer Weise widmen.
- Missbrauch ist nicht allein über strukturelle Maßnahmen zu bekämpfen. Zunächst sind alle kirchlich Handelnden auch persönlich zur Achtsamkeit und Reflexion ihres eigenen Handelns verpflichtet. Die angestoßenen Maßnahmen der Prävention gehen in diese Richtung. Zudem ist die Frage der Personalauswahl und -ausbildung ein wichtiger Bestandteil zur Vermeidung von Missbrauchstaten.
- Gesellschaftlich ist der Missbrauch, sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen zu wahrscheinlich allen Zeiten und auch unter allen ideologischen Großwetterlagen präsent gewesen. Ebenfalls präsent ist der Abwehrmechanismus, bestimmten Gruppen oder Klassen die Verantwortung für den Missbrauch zuzuschieben.[8] Die Kirchen sollten sich davor hüten, diese „Opferrolle“ im gesellschaftlichen Diskurs für sich zu reklamieren, sondern ihren moralischen Kompass festigen, um Vorreiter der Aufklärung und Prävention für andere gesellschaftliche Bereiche zu werden. Sie sollen sich ehrlich und ungeschönt mit ihrer Verantwortung auseinandersetzen und die erforderlichen Konsequenzen tragen. Es ist nicht die Frage, wie ich ein besseres Image bekomme, sondern, wie ich besser im Sinne einer moralischen Umkehr werden kann.
[1] Eine kurze Zusammenfassung hier: Missbrauch in der evangelischen Kirche: Das protestantische Beben | ZEIT ONLINE; Die Studie hier: Abschlussbericht_ForuM.pdf (forum-studie.de); eine Zusammenfassung durch das Forscherkonsortium hier: Zusammenfassung_ForuM.pdf (forum-studie.de)
[2] Forum-Studie, Zusammenfassung, 22.
[3] Forum-Studie, 744-758.
[4] Forum-Studie, Zusammenfassung, 13.
[5] Forum-Studie, Zusammenfassung, 21.
[6] D: „Evangelische Kirche weniger anfällig für Missbrauch“ – Vatican News. Zur Wahrnehmung der katholischen Kirche: Der „Fall Ratzinger“: Wie weit ist der Missbrauch ein „katholisches Problem“? – Sensus fidei
[7] Bernhard Meuser, Freie Liebe, Basel 2020, 152ff.
[8] Dazu habe ich ausführlicher hier geschrieben: Missbrauch und Sexualmoral – Teil 1: Gesellschaft – Sensus fidei, Missbrauch und Sexualmoral – Teil 4: Sexueller Missbrauch, Auswertung – Sensus fidei
Ein Kommentar zu „Missbrauch in der evangelischen und katholischen Kirche – Erkenntnisse aus den vorliegenden Studien“