Der kostbare Besitz [zu Weihnachten]

Vor zwei Wochen war ich noch im Dschungel. In der schwülen Hitze des südlichen Sommers zirpten die Grillen nachts im Gehölz, war der Morgen erfüllt von den Rufen fremder bunter Vögel. Der Wald, in dem sie leben, liegt in Missiones, im Nordosten Argentiniens, wo der Rio Iguazú und der Rio Paraná sich begegnen. Ich hatte die Möglichkeit bekommen, zusammen mit einigen anderen unser dort gelegenes Partnerbistum Puerto Iguazú zu besuchen. Im Mittelpunkt standen Begegnungen mit Menschen vor Ort und der Besuch der Patenschaftsprojekte.

Jetzt bin ich seit einigen Tagen wieder im trübgrauen Advent zu Hause. Die Reise rückt immer mehr in die Vergangenheit. Das ist eine gute Zeit, um zu überlegen, was aus den Erlebnissen im Urwald geblieben ist.

Unter den Fundstücken in meinem Kopf sticht eine kleine Begebenheit heraus. Eines Tages trafen wir uns mit Familien, deren Kinder von Spendern aus dem Erzbistum Hamburg ein Schulstipendium bekommen. Unter ihnen war eine Mutter, die zum Treffen ein Bündel mitbrachte. In eine kleine blaue Decke eingeschlagen befand sich darin ein Christuskopf aus Ton, ein Bruchstück aus einer Darstellung des Gekreuzigten. Sie reichte ihn mir und erzählte die Geschichte dazu. Ihre Tochter, heute 17 Jahre alt, hatte den Kopf aus Ton nach einem starken Regen am Ende eines Ausgusses gefunden. Sie nahm ihn mit. „Es war ihr kostbarster Besitz“, sagte die Mutter.

Es war ihr kostbarster Besitz, nicht etwa, weil sie besonders religiös war, sondern weil sie damals sonst nichts besaß.

Das hat mich beschämt. Es lässt sich über Armut leicht klug reden. Es ist aber etwas ganz anderes, ihr zu begegnen. Ich hielt den Christuskopf lange in den Händen, vielleicht auch, um in dieser Zeit die Mutter nicht ansehen zu müssen. Ein für mich eigentlich wertloses Stück Ton verwandelte sich mit einem Mal in eine große Kostbarkeit.

Vielleicht habe ich in diesem Moment etwas mehr von Weihnachten verstanden. Mir kam der Gedanke, wie es ist, das Geschehen von Betlehem mit den Augen der Armen zu sehen. Was ist den Hirten geschehen, als sie zum Stall kommen? Sie sehen das Allergewöhnlichste, ein neugeborenes Kind. Die Engel müssen helfen, ihnen zu erschließen, wen sie da vor sich haben. Und das Allergewöhnlichste wird zum kostbaren Besitz. Sie gehen und erzählen allen davon.

Die Weihnachtserzählung im Lukasevangelium beginnt mir der Volkszählung. Der Kaiser von Rom, der mächtigste Mensch der damaligen Welt, möchte wissen, über wie viele Untertanen er herrscht. Jeder Mensch wird eine Nummer. Im Reich werden täglich tausende neu geboren und tausende sterben. Die Zahlen werden erfasst und aufgeschrieben.

Wir lieben es bis heute, unsere Welt so zu erschließen. Wir zählen und geben Prozentzahlen an. Wir meinen, so etwas über unsere Welt zu erfahren: 32% der Wahlberechtigten würden aktuell CDU wählen. 76% der Deutschen verbringen Weihnachten mit Familie und Freunden. Im Jahr sterben rund 340 000 Menschen in Deutschland an Herz-Kreislauf-Schwäche. Das Durchnittseinkommen in der EU liegt bei jährlich rund 20 000 Euro. Etwa 50 000 Armenier sind aus dem eroberten Bergkarabach geflohen. Der Krieg in Israel und Palästina hat bislang rund 20 000 Menschen das Leben genommen.

Wir kennen solche Zahlen. Sie geben uns das Gefühl, die Welt objektiv zu erfassen und zu verstehen. Sie geben den Mächtigen die Möglichkeit, sie nach ihren Plänen zu verändern. Die Statistik macht den Menschen zur Zahl. Aber es gibt keine objektiven Menschen. Wir wissen es doch von uns selbst, was es bedeutet, wenn ein einziger krank ist. Wir wissen, was es bedeutet, nur einen einzigen Menschen zu verlieren. Wir können erahnen, was es bedeutet, einen einzigen Menschen zu retten. Im letzten hilft uns die Statistik wenig.

Als der Kaiser seine Volkszählung hält und seine Herrschaft, seinen Besitz berechnen lässt wird außerhalb der Statistik in der fernen Provinz Syrien im Gebiet von Judäa ein Kind geboren. Es fällt für die Statistik nicht ins Gewicht. Und doch wird es der Welt zum kostbaren Besitz. Wir sehen das Kind und hören seine Geschichte. Es verändert seine Bedeutung. Es ist für den, der es versteht ein Grund des Glaubens und der Hoffnung. Das Kind möchte auch mein kostbarer Besitz werden.

Nach einiger Zeit gab ich den Christuskopf in meinen Händen an die Mutter zurück. Sie wickelte ihn sorgfältig wieder ein. Ihrer Tochter geht es heute besser, erzählte sie. Sie besucht jetzt die weiterführende Schule. Sie wird einen Beruf lernen. Die Mutter ist stolz auf sie. Der Christuskopf hatte für sie noch eine weitere Bedeutung. Er zeigte ihr an, dass sich das Leben zum Guten wandeln kann. Er wird so immer ein kostbarer Besitz bleiben.

Beitragsbild: Krippenfiguren im Garten eines Seniorenheims in Puerto Iguazú (Argentinien)

Ein Kommentar zu „Der kostbare Besitz [zu Weihnachten]

  1. Lieber Pfarrer Berger,   „Sie gehen und erzählen allen davon.“: Dieser Satz der Weihnachtsbotschaft ist für mich ein zentraler Auftrag an die Christenheit, die Weihnachtsbotschaft von Gottes Erscheinen auf der Erde, seiner Schöpfung, aller Welt zu erzählen. Nicht nur innerhalb der liebgewordenen Traditionen unserer christlichen Gemeinschaften, sondern auch über unseren Glaubenshorizont hinaus in das neopagane Umfeld, das uns heute besonders in Europa umgibt, sondern auch in die weite Welt hinaus, die das Christentum in dem vergangenen halben Jahrtausend kaum als Friedensbringer verstanden haben dürften, trotz des verdienten Einsatzes der Jesuiten als Vermittler zwischen alten Kulturen und neuer Erlöserbotschaft.   Ihre „sensus fidei“-Beiträge bedeuten mir viel, und ich möchte mich dafür heute bei Ihnen bedanken.   Mit herzlichen Grüßen Detmar Huchting   P.S.: Anbei eine Abbildung der Weihnachtskrippe, die meine Mutter Ende der 1940er Jahre in Berchtesgaden kaufte, und die ich Jahr für Jahr unter unserem Weihnachtsbaum aufgebaut habe (evangelisch natürlich: die Hll. drei Könige sind schon Heiligabend da) Sensus fidei <comment-reply@wordpress.com> h

    Like

Hinterlasse einen Kommentar