Wie wir unsere Toten begraben – einige Anmerkungen

„Angesichts des Todes wird das Rätsel des menschlichen Daseins am größten. Das Mensch erfährt nicht nur den Schmerz und den fortschreitenden Abbau des Leibes, sondern auch die Furcht vor dem immerwährenden Verlöschen. […] Der Keim der Ewigkeit im Menschen wehrt sich gegen den Tod. Unüberwindlich ist in seinem Herzen das Verlangen nach einem weiteren Leben.“[1]

Mit diesen Sätzen wird die „Kirchliche Begräbnisfeier“, das Buch zur gottesdienstlichen Gestaltung der Beerdigung, eingeleitet. Wie bei einem christlichen Ritus nicht anders zu erwarten, ist das Totenbegräbnis nicht nur Ausdruck der Trauer, sondern vor allem ein Ritus des Übergangs. Es wird von der Hoffnung auf die Erlösung aus dem Tod getragen, die wir „Auferstehung“ nennen.

Am Anfang des christlichen Glaubens steht das leere Grab. Der am Kreuz gestorbene Jesus wird in eine Felsenhöhle gelegt, deren Eingang aus Schutz vor wilden Tieren oder Grabräubern mit einem Stein verschlossen wird. Diese Stelle wird in der Jerusalemer Grabeskirche bis heute verehrt. Wer schon einmal Gelegenheit hatte, die stets von Hunderten umringte Grabeskapelle zu betreten, macht eine erstaunliche Erfahrung. An diesem Ort bewahrheitet sich oder zerbricht der tragende Grund der christlichen Hoffnung. Das Grab ist leer. Aber das Grab ist noch da.

Das vielleicht beste Buch, das über die Grabkultur geschrieben wurde, heißt „Die Herrschaft des Todes“ und stammt vom amerikanischen Literaturwissenschaftler Robert Harrison.[2] Der Autor leitet das Entstehen der gesamten menschlichen Kultur aus dem Totenkult ab. Das Grab ist Ursprung der Architektur. Der Trauerlaut Anfang des menschlichen Gesangs, die Bestattungsriten die ersten Formen menschlichen Kultus und damit Anfang religiöser und theatralischer Darstellung. Die Erinnerung an die Ahnen begründet das geschichtliche Gedächtnis. Auch wenn man Robert Harrison in seinen Thesen nicht folgen möchte, bleibt doch das schlichte Faktum, dass die alten Kulturen sich heutigen Archäologen wesentlich über die Grabstätten erschließen. Sie geben Aufschluss über Kultur, Glauben und Hoffnung vergangener Jahrtausende. Der Mensch zeichnet sich dadurch aus, dass er die Toten beisetzt und sich um ihre Gedenkorte kümmert.

Anders als etwa in asiatischen Kulturen, wo sich die Totengedenkstätten auch im eigenen Haus befinden können, übernahm das Christentum den römischen Brauch, die Verstorbenen in abgesonderten Bereichen, in Totenstädten (Nekropolen) beizusetzen.[3] Das Wort „Friedhof“ weist bis heute darauf hin. Es handelt sich um einen Ort, der durch eine Mauer „eingefriedet“ ist, um einen klar umschriebenen Bereich der Totenruhe, an dem die Grabmonumente, die Steine und Kreuze den Liegeplatz der Verstorbenen bezeichnen. „Dep.“ Schrieben die frühen Christen auf die Sarkophage und an die Erdgräber – „depositum“ – abgelegt, verwahrt bis zur Auferstehung. Das Christentum hatte so einen ganz eigenen Zugang zum Begräbnis. Der Leichnam wird in das Grab gelegt, damit das Grab leer werden kann. Das Grab ist ein Übergangsort und damit nicht von gleichem Ewigkeitswert wie etwa im Judentum, wo der Friedhof niemals aufgelöst werden darf.

Die christlichen Beerdigungsriten, wie sie sich im Lauf der Jahrhunderte ausgeprägt haben, drücken den Zustand des Übergangs aus. Der Tote wird nach dem Sterben mit einem weißen Gewand (dem Totenhemd) bekleidet. Es erinnert an das Taufkleid. Vom Anfang bis zum irdischen Ende gilt die Zusage des neuen Lebens durch Gott. Wer mit Christus stirbt, wird auch mit ihm auferstehen. Es folgte die Totenwache zu Hause. Sie hatte beide Elemente: Den Beistand und die Mit-Trauer gegenüber den Angehörigen und zugleich das fürbittende Gebet. In traditionell katholischen Gegenden in Deutschland versammeln sich noch heute am Sterbetag die Einwohner des Dorfes zum Rosenkranzgebet in der Kirche. Für den Verstorbenen wird das Requiem gefeiert, die Totenmesse. Sie vereinigt die Feier von Tod und Auferstehung Jesu mit der Gemeinschaft der Lebenden und Toten der Kirche. Der Sarg wird vor der Beisetzung mit Weihwasser – wiederum ein Zeichen der Taufe – besprengt. Das Wasser des Lebens, von dem Jesus im Evangelium spricht soll in der Vollendung neu fließen können.

Vor etwa 15 Jahren kam es im Hamburger Priesterrat zu einer scharfen Auseinandersetzung. Im Zuge der Renovierung der Domkirche hatte eine Gruppe den Vorschlag gemacht, im Keller unter dem neu gestalteten Altarraum des Doms eine Urnengrabstätte, ein sogenanntes Kolumbarium einzurichten. Streitpunkt war weniger die Schaffung eines Begräbnisortes in der Kirche als vielmehr die Form der Bestattung. War nicht die Urnenbeisetzung bis 1983, als sich das Kirchenrecht änderte, für katholische Christen verboten gewesen? Sollte man eine solche Bestattungsform wirklich an einem so prominenenten Ort fördern? Der Hintergrund des Verbots der Feuerbestattung lag im Glauben an die Auferstehung des Leibes. Es gab Zeiten, in denen die Verbrennung des Leichnams als atheistisches Bekenntnis galt. Das Kolumbarium wurde gegen so manchen Widerstand gebaut.[4] Es ist gut, dass es da ist. Was vor 15 Jahren noch als Ausdruck des Verfalls der christlichen Begräbniskultur galt, ist heute geradezu ein Zeichen gegen diesen Verfall geworden, der sich viel schneller vollzog, als wir es gedacht hätten. Im heutigen Kolumbarium sind viele Christen bestattet, darunter auch Priester. Die Namen der Toten stehen in goldenen Buchstaben an den Urnengräbern. Von oben ist der Klang der Orgel, der Gesang, die biblische Lesung und das Hochgebet zu hören. Die Toten sind in der Gemeinschaft der Kirche weiter zu Hause. Über ihnen wird gebetet: „Deinen Tod, o Herr verkünden, deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.“

Im vergangenen Jahr stellte ich fest, dass nur noch ein Drittel der verstorbenen Gemeindemitglieder auch kirchlich beerdigt wurden. Diese Nachricht wirkte auf einige wie ein Schock. Stillschweigend war man davon ausgegangen, dass Katholiken sich auch kirchlich beerdigen lassen. Aber es ist anders. Abgesehen von der schlichten Tatsache, dass der christliche Glaube den nachfolgenden Generationen immer weniger bedeutet, hat sich im Umgang mit den Verstorbenen ein großer Pragmatismus breitgemacht. Viele Beerdigungen finden ganz ohne Trauerritus statt. Man trifft sich mit dem Bestatter auf dem Friedhof und geht gemeinsam zum Grab. Beerdigungen sind teuer, Erdbestattungen besonders. Die Grabpflege wird durch die entfernt wohnenden Angehörigen nicht mehr gewährleistet. Die Zahl der Gräberfelder, auf denen noch nicht einmal der Name der Beigesetzten verzeichnet ist, nimmt zu. Auch der Friedhof verliert an Bedeutung. Viele Menschen bevorzugen entfriedete – also nicht gekennzeichnete – Orte. Das Meer verschluckt die sich auflösende Urne. Die Asche zerstreut sich im Wasser. Der sogenannte Friedwald ermöglicht eine Urnenbeisetzung im Waldboden. Fußgänger, Hunde und Wildtiere laufen über die Gräber hinweg. Der Wald verändert sich. Der Gedenkbaum wächst und stirbt oder wird gerodet. In 100 Jahren wird niemand mehr wissen, dass sich hier ein Begräbnisort befand.

Wenn die Kultur der Menschen an ihren Begräbnisorten zu messen ist – was wird später über unsere Kultur sagen? Ich denke das manchmal, wenn ich auf den alten Friedhöfe die prächtigen Grabmale des 19. Jahrhunderts sehe. Hier war etwas zum dauerhaften Andenken geschaffen worden. Natürlich, es sind reiche Leute, die dort ihre letzte Ruhe gefunden haben. Der Tod ist lange schon auch ein Geschäft. Aber den Ritus konnten doch immer noch alle in Anspruch nehmen. Die Messe konnte für den Verstorbenen gefeiert werden und der Priester kam zur Begleitung auf den Friedhof. Auch ein armes Grab kündet von der Hoffnung auf die Auferstehung.

Ich habe einmal versucht, den Termin einer anonymen Bestattung zu erfahren. Eine alte Frau war aus der Gemeinde war mittellos verstorben. Es gab mehrere Gemeindemitglieder, die die Beerdigung begleiten wollten. Das Sozialamt gab uns keine Auskunft. Die Verstorbene wurde ritenlos begraben. Wir kennen nicht einmal den Ort. War der Aufwand zu hoch?

Seit Neuestem wandelt sich die Frage der Beerdigung zu einer Frage der Entsorgung. Die ökologisch wertvolle und effektive Auflösung des Leichnams in der „Re-Erdigung“[5] oder „Resomation“[6] wird propagiert. Die Unternehmen werben für ihren „Service“ bei den Landesregierungen. Im Science-Fiction-Roman „Lovestar“ hat es sich ein internationaler Konzern zur Aufgabe gemacht, die Welt von Friedhöfen zu befreien. Er bietet an, die Sterbenden mit einer Rakete in den Orbit zu schießen und unter Beobachtung der Angehörigen in einem großen Feuerwerk verglühen zu lassen.[7] Immerhin ist hier noch eine Art Ritus vorgesehen.

Es ist paradox. Auf der einen Seite erfindet unsere Zeit eine neue Begräbnis“kultur“, auf der anderen nimmt das Bedürfnis am Totengedenken zu. Ich kann nicht zählen, wie viele Gedenkstätten an Opfer von Kriegen, Gewalt, Unglücken und Katastrophen in den letzten Jahren geschaffen worden sind. Hier wird betont, wie wichtig das Gedenken ist. Das Mahnmal hat den gleichen Sinn wie der Grabstein. Es hält die Verstorbenen im Gedächtnis, holt ihre Namen in die Mitte der menschlichen Gemeinschaft zurück. Das Gedenken an den einzelnen Verstorbenen allerdings wird privatisiert. Mit den Zeitzeugen stirbt auch der Name. Die Liegezeiten an den Grabstellen werden immer kürzer. Die Gedenkstätte zeigt allerdings, dass wir offenbar die Intention des Totenkultes noch nicht ganz verloren haben.

Im Sommer war ich in der Gegend von Ypern, im südlichen Belgien. Die Landschaft ist von Soldatenfriedhöfen des Ersten Weltkriegs durchzogen. Auf dem Friedhof von Langenmark sind 30 000 deutsche Soldaten beigesetzt worden. In mühsamer Recherche hat man versucht, die Leichnam zu identifizieren und ihnen auf den Grabsteinen ihre Namen zurückzugeben. Auf dem Gräberfeld stehen Kreuze. Leid, Tod und Auferstehung, Mahnung, Erinnerung und Hoffnung kommen zusammen. Man fragt sich, warum es so schwer sein sollte, Orte der Toten unter uns zu erhalten.  

Beitragsbilder: Soldatenfriedhof von Langenmark (Belgien), Allegorie des Glaubens, Grabstein auf dem Friedhof der Wasserkirche, Dresden; Grabmal auf den Friedhof von Arnsberg, Namenstafel auf dem Soldatenfriedhof Langenmark  


[1] Die kirchliche Begräbnisfeier, Freiburg 1972, Pastorale Einführung, Nr. 1.

[2] Robert Harrison, Die Herrschaft des Todes, München 2006.

[3] S. hierzu ausführlicher: Christliches Menschenbild – Teil 5 – Sensus fidei

[4] Kolumbarium – St. Marien-Dom Hamburg (mariendomhamburg.de)

[5] Reerdigung: Neue ökologische Form der Bestattung – Kritik an Alternative zu Sarg oder Urne | Brisant.de

[6] Resomation – So wird aus einer Leiche weißes Puder – WELT

[7] Andi Saer Magnason, Lovestar, Köln 2020.

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