Der vor wenigen Jahren verstorbene Pfarrer Peter Schmidt-Eppendorf war zum einen ein großer Kenner der norddeutschen Kirchengeschichte, zum anderen ein wunderbarer Erzähler. Seinen gesamten priesterlichen Dienst hatte er in verschiedenen Gemeinden an der schleswig-holsteinischen Nordseeküste verbracht. Fast 30 Jahre war er Pfarrer auf der Halbinsel Nordstrand. Neben seinen dienstlichen Aufgaben gründete er unter anderem einen Shanty-Chor und sammelte lokale Geschichten, Sagen, Gedichte und Lieder. In einem Vortrag, den ich einmal von ihm hören durfte, entführte er die Zuhörer in die raue und mystische Welt der Nordseebewohner vergangener Jahrhunderte. Damals rezitierte er das Gedicht „Trutz, blanke Hans“ von Detlev von Liliencrom aus dem Jahr 1833. Die erste Strophe lautet:
Heut bin ich über Rungholt gefahren,
Die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren.
Noch schlagen die Wellen da wild und empört,
Wie damals, als sie die Marschen zerstört.
Die Maschine des Dampfers schütterte, stöhnte,
Aus den Wassern rief es unheimlich und höhnte:
Trutz, Blanke Hans.[1]
Die im Gedicht genannte Stadt Rungholt lag dereinst an der südlichen Küste der Halbinsel Eiderstedt. Im Winter 1362 wurde sie bei einer großen Sturmflut völlig zerstört und verschwand im Schlamm des Wattenmeeres. Nichts mehr war von ihr zu sehen. Über ihre Existenz wurde über Jahrhunderte nur noch in Geschichten erzählt. Man wusste lange Zeit nicht einmal mehr, wo genau der Ort einst gestanden hatte. Die versunkene Stadt im Meer wurde zunehmend zu einem mythischen Ort, zu einem deutschen Atlantis. Man erzählte sich, dass die Bewohner der Küste bei Südwind die Glocken der Rungholter Kirche hören konnten und dass die Stadt alle sieben Jahren in der Johannisnacht aus dem Meer auftauchen würde. Für die Augen der Schiffer allerdings blieb sie unsichtbar. Mit ihren Booten fuhren sie auf See über den versunkenen Ort hinweg. Aus dem historischen Ort wurde so eine Legende, ein Mythos, ein Märchen. Es wurde zwischendurch sogar bestritten, dass es Rungholt jemals gegeben habe.
Das, was mit Rungholt passierte, ist ein Beispiel. Ich denke, man kann es in ähnlicher Form auf den Glauben übertragen, so, wie er sich im Empfinden vieler Menschen heute darstellt. Für einige ist nämlich die Erinnerung an Gott und an die Kirche von ganz ähnlicher Natur. Ganz früher einmal, in den Tiefen der eigenen Geschichte, in ihrer Kindheit war Gott eine unbestreitbare Realität. Er war da im kindlichen Denken, so wie die Eltern da waren. Man konnte zu ihm beten und fand ihn in der Kirche wieder, wo im feierliche Gottesdienst für ihn gesungen wurde. Doch irgendwann verschwand Gott. Bei einigen war es wie in einer Sturmflut, so dass der Glaube mit einem Mal aufhörte, unter den Fluten des rationalen Denkens oder auch des Desinteresses begraben wurde. Bei anderen versandete der Glaube langsam. Der Gedanke an Gott wurde seltener, das Gebet verebbte, der Besuch des Gottesdienstes sprach nicht mehr zu ihnen. Schicht um Schicht ließ der Lauf des Lebens den Glauben unkenntlich werden. Der Sand des Meeres ließ ihn versinken, das Wasser breitete sich über ihm aus. Zuweilen, ganz selten melden sich noch von Ferne die Kirchenglocken der untergegangenen Welt, tauchen in einer Lebenskrise oder anlässlich einer kirchlichen Feier noch einmal auf. Was war damals? War Gott in meinem Leben tatsächlich einmal da gewesen? Oder war das ein Trug, eine Legende, ein Mythos, den ich einmal als Kind angenommen hatte, von dem ich mich aber schon längst verabschiedet habe, wie von so vielen Überzeugungen meiner Kindheit? Was sind das für Leute, die noch heute einem so unwahrscheinlichem Gedanken, wie dem Gottes folgen? Wie kann es sein, dass es noch heute Menschen gibt, die von Gott erzählen, als ob er für sie noch heute Wirklichkeit wäre? Das Läuten der Glocken aus dem Meer, das Raunen über Gottes Gegenwart: Ist es wirklich mehr als eine mythische Erinnerung, eine Erzählung, die wir, obwohl doch offenbar nichts zu sehen ist, nur einfach noch nicht losgeworden sind?
In diesem Monat machte ein Forschungsteam im Wattenmeer, in der Nähe der Hallig Südfall eine Entdeckung.[2] Mit einem Wagen, ausgestattet mit neuester elektromagnetischer Technik sind die Forscher über das Watt gezogen. Sie fanden unter dem Sand die Konturen mehrerer mittelalterlicher Warften, also befestigter Hügel. Auf einem der Hügel identifizierten sie aus den Messdaten heraus eine 40 mal 15 Meter große Fundamentstruktur. Die Rungholter Kirche ist gefunden. Sie war offensichtlich sogar um einiges größer als angenommen. Rungholt ist da und man wird sehen, was in Zukunft von der Stadt aus dem Meer noch geborgen werden kann.
Aus einer fernen Erinnerung, aus einer mythischen Verklärung wird mit einem Mal wieder eine reale Geschichte. Diese Wirkung wird biblisch dem Heiligen Geist zugeschrieben. In den Prophetenschriften wird seine Wirkung in Bildern ausgedrückt: Wenn aus dürrer Steppe wieder fruchtbares Land wird (Jes 32,15), wenn die toten Gebeine wieder neues Leben erhalten (Ez 37), oder das versteinerte Herz durch ein lebendiges ersetzt wird (Ez 36), dann ist dies das Wirken des Geistes. Die Botschaft der Propheten an ihre Zeitgenossen ist: Ihr habt Gott vergessen? Sein Wirken und seine Gebote sind euch nicht mehr bekannt? Ihr habt euch von ihm abgewandt und seid anderen Göttern gefolgt? Ihr werdet staunen. Gottes Geist ist lebendig. Gott wird euch in ihm begegnen und ihr werdet erfahren, dass Gott da ist. Aus dem fernen Gerücht seiner Gegenwart wird wieder lebendige Begegnung mit ihm werden.
Das Pfingstfest erzählt im Kern von der bleibenden Gegenwart Gottes, der aus der fernen Erinnerung des Glaubens wieder eine lebendige Beziehung machen möchte, der Geist der unter Wasser und Sand eure Fundamente wiederfinden wird. Ihr werdet wieder auf Gott stoßen, ihr könnt wieder neu anfangen. Jeder Neuanfang im Glauben verdankt sich einer Gottesbegegnung. Ohne den Geist bleiben die alten Erinnerungen und Geschichten alte Erinnerungen und Geschichten. Mit dem Geist werden sie plötzlich wieder Wirklichkeit und Relevanz. Diese Wiederentdeckung ist möglich und als gläubige Menschen würden wir sagen: Wir würden sie uns und den anderen wünschen.
Beitragsbild: Wattenmeer bei St. Peter-Ording
[1] Der gesamte Text hier: Trutz, Blanke Hans (1883) – Wikisource
[2] Vermisst seit 1362 – Untergegangene Kirche von Rungholt lokalisiert | Nachricht @ Archäologie Online (archaeologie-online.de)