Rosenhof [Predigt zum DLF-Radiogottesdienst]

Metall erkenne ich gewöhnlich sofort. Es hat häufig eine glänzende Oberfläche, eine gewisse Kühle, wenn ich es anfasse. Ich merke sein Gewicht und kann es meist am Klang identifizieren, der leicht widerhallt, wenn ich gegen das Metall schlage. Doch einmal habe ich es nicht erkannt. Ein Verwandter brachte mir eines Tages Fotos mit. Sie zeigten eine geheimnisvolle geometrische Struktur, kleine Balken, Kügelchen und Tropfen die sich ineinander zu Mustern verschränkten, dann wieder Flächen wie Eisschollen, die sich übereinander lagerten oder Stalagmiten, die dicht aneinander stehend an eine Wiese erinnerten. „Was ist das“, fragte ich? „Das sind Metalle, die wir unter dem Elektronenmikroskop untersucht haben.“ Ich war erstaunt. Das scheinbar eindeutige Material, das ich zu kennen glaubte, hatte sich hier bei näherer Betrachtung in etwas ganz anderes aufgelöst. Unter der bekannten Gestalt lag eine tiefere, unsichtbare Ordnung von faszinierender Schönheit. Die Forscher hatten sie mir zugänglich gemacht.

Die Welt ist voller solcher Geheimnisse. Sie haben schon immer die Neugier der Menschen geweckt. Hinter dem sichtbaren Lauf der Natur erkannten sie verborgene Ordnungen und Gesetze. In der Bibel berichtet die Weisheit Gottes von ihnen. Sie wird im Buch der Sprichwörter als eine eigene Person vorgestellt. Von Beginn der Schöpfung an, beobachtet sie das Wirken Gottes. Sie erkennt in den Läufen der Natur des Himmels, des Meeres, der Erde die planvolle Absicht des Schöpfers. Es liegt eine verborgene Ordnung in allem. Die Weisheit sagt von sich, dass sie mit all ihrer Erkenntnis bei den Menschen wohnen wollte. Der Gang auf den Grund der Dinge, die Erkundung der Welt, die Einsicht in ihre planvolle Ordnung sollte dem Menschen möglich sein. Er lernte in biblischem Verständnis bei der Erforschung der Welt nicht nur die Schöpfung näher kennen, sondern entdeckte zugleich auch Gott in ihr. Die Weisheit als Lebenskraft und Antrieb des Menschen führt ihn auf den Weg in die Erkenntnis und die Wahrheit.

Von einem solchen nach Erkenntnis strebenden Menschen erzählt Adalbert Stifters großer Roman „Der Nachsommer“. Die Hauptfigur, Heinrich, trägt in sich einen großen Wissensdrang. Von seinen Eltern dazu ermutigt, macht er sich als junger Mann auf den Weg, die Natur zu erforschen. Auf seinen Erkundungsreisen trifft er im Spätsommer auf ein Landgut rund um den Rosenhof. Dort wohnt ein alter Mann, der über die Jahre seines Lebens hinweg das Gut zu seinem eigenen kleinen Kosmos gestaltet hat. Dort ist eine Landwirtschaft und ein Bewässerungssystem, ein prachtvoller Garten, eine Sammlung von Steinen und Mineralien. Alles stimmt harmonisch zusammen. Der alte Mann nimmt Heinrich bei sich auf. Im Lauf mehrerer Besuche weist er den jungen Mann in die Geheimnisse seiner Schöpfung ein, erklärt ihm die Pflanzen und das Wasser, die Insekten und die Materialien, den Gartenbau, den Jahreslauf, die Ordnung der Dinge. Eine Seite seines Hauses ist mit den herrlichsten Rosen bepflanzt, die im Spätsommer ihre volle Pracht entfalten. Hinter ihnen steht ein Geheimnis. Der alte Mann erzählt von einer unerfüllten Liebe. Die Rosen sind ihm ein Zeichen für die Liebe, für ihr Vergehen und ihr erneutes Aufblühen. Im Geist und zugleich im Schmerz dieser Liebe hat er sein Werk erschaffen. Am Ende des Romans ist Heinrich ein gebildeter Mensch. Er hat nicht bloß seinen Wissensdurst gestillt, sondern auch seine Persönlichkeit entwickelt. Vor dem Rosengarten lernt er schließlich seine große Liebe kennen, mit der er nun fortan durch das Leben ziehen wird.

Aus theologischer Sicht zeichnet der Autor Adalbert Stifter hier so etwas wie die Miniatur der Dreifaltigkeit nach. Der Schöpfer, hier die väterliche Person des alten Mannes, gibt sein Wort, seine Weisheit, den „logos“, wie es auf Griechisch heißt weiter. Aber erst aus der Liebe, der ausgesandten, verletzten und wiedergefundenen, kann sein Werk entstehen, erst aus ihr wird das Werk verständlich und übersetzt sich in das Leben der Anderen. „Der Geist wird euch in die ganze Wahrheit führen“. Diesen Satz sagt Jesus den Jüngern bei seinem Abschied. Erst aus dem Geist, der liebenden und belebenden, erkenntnisbringenden Kraft Gottes heraus wird euch die Welt, wird euch euer Leben und wird euch schließlich auch Gott verständlich werden. Erst im Geist werden die Jünger Gott wirklich verstehen. Dieser Geist ist kein Lehrer in dem Sinn, als dass er einen bestimmten Lehrstoff vermitteln würde. Vielmehr soll er die Herzensbildung bewirken, die versteht, die Welt, das Leben und schließlich auch die anderen Menschen von der Liebe her zu erschließen. Der heutige Dreifaltigkeitssonntag führt uns also symbolisch an den Rosenhof, in Gottes Schöpfung zurück. Er formuliert die Einladung zu forschen, neugierig zu sein, sich zu öffnen und erkennen zu wollen.

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