Ich erinnere mich an ein Gespräch, das ich vor vielen Jahren einmal geführt habe. Ich sprach damals mit einer Gemeindereferentin, die gerade in eine neue Gemeinde versetzt worden war. Sie erzählte von ihren ersten Eindrücken dort und sie erzählte von der Kirche, die an ihrem Einsatzort stand. Sie sagte: “In dieser Kirche gibt es ein großes Kreuz, und dieses Kreuz ist so mächtig, dass ich mir anfangs nicht vorstellen konnte, unter diesem Kreuz zu beten.”
Tatsächlich zeigt dieses Kreuz einen leidenden Christus. Es offenbart die ganze Schrecklichkeit des Leidens und des Todes. Ich vermute, einigen von ihnen geht es ähnlich. Wenn wir beten wollen zu einem Gott, der doch gut ist und der für uns das Gute möchte – warum tun wir es dann vor einem Bildnis des Schreckens und des Leidens? Das große Kreuz ist doch zunächst ein Zeugnis des Todes. Das Kreuz zeigt doch eine Realität, die wir gar nicht so gerne ansehen möchten.
Schon den ersten Christen ging es ähnlich. Solange die Kreuzigung, also diese grausame Form der Hinrichtung praktiziert wurde, fiel es ihnen schwer, das Kreuz auch in ihren Kirchen darzustellen. Wenn sie die Kreuzigung zeigten, dann häufig nur in einen Aspekt eines umfangreichen Bildprogramms. Das Hauptbild der frühen Kirchen war zumeist das des wiederkommenden Christus – ein Bild der Hoffnung und ein Bild des Sieges. Mit dem Kreuz allerdings war es anders. Es war eher ein Zeichen der Niederlage. Niemand möchte zuerst an Niederlagen denken. Die Erinnerungen, die wir uns schaffen, sollen doch zunächst einmal etwas Positives zeigen.
Schon Paulus musste intensiv um Verständnis für das Kreuz werben. Er sprach vom “Skandalon des Kreuzes”. Das Kreuz erregte Anstoß. Es war etwas, womit die Menschen Schwierigkeiten hatten. Es war ein Zeichen des Todes. Paulus sagte sinngemäß: “Das Kreuz ist für uns ein Ärgernis. Erst wenn wir es verstehen, dann beginnen wir darin, etwas Gutes zu sehen. Erst im Tod und erst in der Niederlage des Kreuzes ist unsere christliche Hoffnung verborgen, dass dieser Tod überwunden wird. Es ist die Hoffnung, dass das Leiden überwunden werden kann. Wir müssen uns an das Kreuz erinnern, um den wirklichen Sieg über Sünde und Tod vor Augen zu haben” (vgl. 1 Kor 1, Phil 2, Kol 2).
Das Fest Kreuzerhöhung stellt nun das Kreuz in den Mittelpunkt. Historisch erinnert es an die Auffindung des Kreuzes Jesu durch die römische Kaiserin Helena. Sie brachte die Reliquien des Kreuzes, die Dornenkrone, die Kreuzestafel und einiges mehr damals von Jerusamlem nach Rom. Von nun an sollte das Kreuz Erkennungszeichen der Christenheit sein.
Wir schauen im Kreuz also auf etwas, was wir eigentlich nicht sehen wollen. Wir schauen auf das, was uns Angst macht. Wir schauen auf das Leiden. Wir erhöhen etwas, was uns eigentlich Angst macht. Diese Erhöhung und Verehrung des Kreuzes ist etwas, was wir christlich als “Umwertung der Werte” kennzeichnen können. Das, was eigentlich vor den Augen der Welt eine Niederlage darstellt, etwas Schlimmes und Schändliches, soll zu einem Zeichen des Heiles werden. Denn es zählt nicht, was in den Augen der Welt niedrig und gering ist, sondern es zählt, was vor Gott groß und herrlich sein kann. Das Kreuz folgt der Logik., dass selbst das Unscheinbarste, das Kleinste und Geringste vor Gott groß und wichtig werden kann.
In der letzten Woche hat Papst Leo in Rom eine Heiligsprechung gefeiert, die große Beachtung gefunden hat. Heiliggesprochen wurde ein italienischer Junge. Das Besondere war, dass sogar seine Mutter an der Heiligsprechung teilgenommen hat. Dieser Junge, Carlo Acutis, war 2006 im Alter von 15 Jahren verstorben. Er gilt als erster Heiliger seiner Generation, einer Generation, die vom digitalen Zeitalter geprägt ist. Man mag sich fragen, was den Menschen hier vor Augen gestellt wird. Bei allen, auch kritischen Anfragen, die es zu dieser Heiligsprechung gibt, ist die Begeisterung für diesen neuen Heiligen bei vielen jüngeren Katholiken groß. Sein Leben ist für sie ein Zeichen: Dieses kurze Leben hat gezeigt: Egal wo du lebst und egal in welchen Lebensumständen du zu Hause bist, jedes Leben kann ein Leben vor Gott ein gutes, gelingendes, sogar ein heiliges Leben sein. Heiligkeit ist kein Privileg vergangener Zeiten. Heiligkeit ist kein Privileg vergangener Frömmigkeitsformen. Heiligkeit ist nicht etwas, das nur für bestimmte Menschen im Geistlichen Stand reserviert ist. Fürs Heiligwerden muss man auch kein Märtyrer sein. Sondern es gilt, aus den Möglichkeiten meines Lebens etwas Gutes zu machen. Bei Carlo waren viele dieser Möglichkeiten gegeben. Er wuchs in einer wohlhabenden Familie auf, er hatte Raum, sich zu entfalten, aber er nutzte diesen Raum, um selbst tätig zu werden. Als gläubiger Mensch engagierte er sich in seiner Pfarrgemeinde, besonders auch im karitativen Dienst. Er entdeckte für sich, den Wert des Gebetes. Und er interessierte sich für die Eucharistische Anbetung. Das Internet nutzte er dafür, von seinem Leben und von seiner Begeisterung, seiner Leidenschaft für Gott zu erzählen. Sein kurzes Leben wird nun beispielhaft gewürdigt. Mit der Heiligsprechung wird es gewissermaßen erhöht, so kurz und oberflächlich gesehen “unbedeutend” es zunächst auch gewesen sein mag.
Das Kreuz, an das an diesem Fest erinnert wird, ist bis heute ein ambivalentes Zeichen. Es deutet immer auf das, was nicht vollkommen ist. Es ist eine Ermutigung, gerade auch das nicht Vollkommene meines Lebens vor Gott zu bringen. Nichts und niemand ist vor Gott zu gering. Selbst im Scheitern kann ein Moment der Heilung, der Überwindung und des Sieges liegen. Nachfolge Jesu ist keine Angelegenheit der Vollkommenen, sondern derjenigen, die sich mit all ihren eigenen Schwierigkeiten, Leiden und Unvollkommenheiten dem Wirken Gottes öffnen wollen. “Das Niedrige und das Verachtete in der Welt hat sich Gott erwählt” (1Kor 1,28). So sehen wir im Kreuz die größte Niederlage, die zur größten Hoffnung werden kann.
Beitragsbild: Kreuzeskapelle in der Kathedrale von Madrid