Der Papst und die „Mutter vom Guten Rat“

Im kleinen Bergstädtchen Genazzano, etwa dreißig Kilometer vor den Toren Roms, hatte man im Jahr 1467 begonnen, das mittelalterliche Kirchlein im Herzen des Ortes auszubauen. Möglich war dies dank einer großzügigen Spende einer reichen Gönnerin, die Mitglied in der Laiengemeinschaft der Augustiner war.

Zeitgleich herrschte im weit entfernten Albanien Krieg. Die Türken eroberten das Land und belagerten die Stadt Shkodra. Währenddessen geschah der Legende nach ein Wunder. Ein Fresko, das die Mutter Gottes mit dem Jesuskind zeigte löste sich auf geheimnisvolle Weise von seiner Wand. Engel trugen es fort. Zwei Soldaten verfolgten den Weg des Gnadenbildes, das sich schließlich an der Wand der gerade im Bau befindlichen Kirche von Genazzano wiederfand. Dank der wundersamen Herkunft ließ die Verehrung des Bildes nicht lange auf sich warten. Zahlreiche Wunder sollen auf die Fürsprache der „Mutter vom Guten Rat“ erfolgt sein.

Nach Fertigstellung der Kirche wurde die Seelsorge am Wallfahrtsort vom in Genazzano residierenden Fürsten Colonna dem Orden der Augustinereremiten anvertraut, die bis heute dort präsent sind. Dies alles geschah – dies nur nebenbei – einige Jahre bevor ein berühmter Ordensbruder der Augustiner, ein deutscher Mönch mit dem Namen Martin Luther, zur Wallfahrt nach Rom aufbrach und im Augustinerkloster von Santa Maria del Popolo Quartier nahm. Bekanntlich hat es Luther in Rom nicht besonders gut gefallen. Vielleicht wäre ihm schon damals ein Aufenthalt im beschaulichen Genazzano eher anzuraten gewesen.

Dort entwickelte sich über die Jahrhunderte ein kleiner, feiner Wallfahrtsort, der nicht die großen Volksmassen, aber dafür eine Reihe illustrer Pilger anzog. Bei einer Besichtigung in der heutigen Kirche fallen einem sofort die Namenslisten und -tafeln der berühmten Besucher ins Auge. Mutter Theresa war hier, Alfons von Liguri, Johannes Bosco. Vor allem war Genazzano ein Wallfahrtsort der Päpste. Pius IX. kam häufig hierher, vor allem aber sein Nachfolger. Vincenzo Gioacchino Pecci stammte aus dem kleinen Dörfchen Carpineto Romano, nicht weit von Genazzano entfernt und hatte bereits als Kind regelmäßig an der Wallfahrt zur „Mutter vom Guten Rat“ teilgenommen. 1878 wurde er Papst und nahm den Namen Leo XIII. an. Anfang des 20. Jahrhunderts erhob er die Wallfahrtskirche zur Basilika und verlieh ihr so päpstliche Ehren. Johannes XXIII. war kurz vor Beginn des II. Vatikanischen Konzils in Genazzano, um für den guten Verlauf des Konzils zu beten. Johannes Paul II. zählt ebenfalls zu den Pilgern.

Gnadenbild der „Mutter vom Guten Rat“

Als in der vergangenen Woche, nur einen Tag nach der Papstwahl in Rom eine große Limousine in Genazzano vorfuhr, aus der der neugewählte Pontifex Leo XIV. stieg, war dieser erste „Ausflug“ somit von geschichtlicher Bedeutung. Robert Francis Prevost, der neugewählte Papst stattete so zum einen seinen Ordensmitbrüdern einen Besuch ab, knüpfte zum zweiten an die Tradition Leo XIII. an, auf den er sich nach eigener Auskunft bei einer Namenswahl bezog. Das Gebet beim Bild der „Mutter vom guten Rat“ markiert den geistlichen Beginn seines Pontifikats. Aus den Quellen seiner Ordensspiritualität und im Geist des Sozialreformers Leo XIII., dem Begründer der katholischen Soziallehre beginnt nun ein neuer Abschnitt päpstlicher und damit auch weltkirchlicher Geschichte. Das Pontifikat steht unter dem Schutz der Mutter vom Guten Rat.

Dieser gute Rat wird auch gebraucht. Nach der doch weitgehend überraschenden Wahl sah man in den unendlichen Interviews mit Bischöfen und journalistischen „Vaticanisti“ in etwas ratlose Gesichter. Kardinal Prevost war für viele ein „unbeschriebenes Blatt“. Die trifft es ganz gut, denn tatsächlich scheinen vom jetzigen Papst Leo XIV. keine Schriften zu existieren. Anders als bei Johannes Paul II. und Benedikt XVI., die vorher als Theologieprofessoren bereits ein reichhaltiges theologisches Werk aufzuweisen hatten und auch anders als bei Papst Franziskus, von dem zumindest ein sehr umfangreicher Interviewband wenige Monate vor seiner Papstwahl erschienen war, wissen wir über die theologische oder pastorale Ideenwelt des neuen Papstes noch relativ wenig.

Diesen Leerraum wussten die mehr oder weniger kirchlichen „Deuter“ schnell zu füllen und machten den neuen Papst zum Fürsprecher ihrer eigenen Anliegen. Schnell kursierten auch Gerüchte: Der Papst sein ein verkappter Marxist, behaupteten amerikanische Traditionalisten. Ganz im Gegenteil, sagten andere, der Papst sei ein großer Anhänger der tridentinischen Messe. Dass der Papst den Synodalen Weg gut finde, davon war der in Magdeburg tagende Synodale Ausschuss schnell überzeugt. Parallel dazu versuchten Journalisten möglichst viel über den Neuen im Vatikan zu erfahren. Seine beiden Brüder Louis und John erteilten amerikanischen Fernsehsendern bereitwillig Auskunft. Es kursierten Videos von Prevost, als er als Bischof in Peru ein schmissiges „Feliz Navidad“ anstimmt, auf einem Pferd in ein Indigenendorf einreitet oder als Besucher im Fanshirt bei einem Baseballspiel der „White Sox“ seine Mannschaft anfeuert. Demnächst werden wir auch noch Bilder vom Tennisspielen zu sehen bekommen, einem Sport, den Prevost länger betrieben hat, oder von ihm als Pizzaboten, einem Job in dem er während der Collegezeit sich ein wenig dazuverdiente. Nanu, der Papst war mal ein ganz normaler amerikanischer Junge… – als ob man sich darüber wundern sollte.

Der derzeitige Medienhype ist im Zeitalter von Social media nicht ungewöhnlich. Der jetzige Papst hat in den letzten Jahren sogar getwittert. So ist das halt im 21. Jahrhundert. Sonst ist eigentlich in einer Woche Pontifikat noch nicht viel geschehen. Leo XIV. hat sein bisheriges Programm souverän absolviert: Die Heilige Messe mit den Kardinälen und einem glühenden Appell für den Glauben in einer an vielen Stellen glaubensarmen Welt, das erste Mittagsgebet auf dem Petersplatz, die erste Generalaudienz. Ein riesiger Vorteil: Der Papst spricht Englisch, was die Verbreitung seiner Worte sehr erleichtert. Dazwischen lag die nicht ungewöhnliche Referenz an seine Vorgänger, deren Gräber er besuchte. Und eben der Besuch in Genazzano.

Dort, am Rande des Ortes liegt übrigens noch eine weitere Sehenswürdigkeit. Heute von Sträuchern überwuchert stehen mitten auf einer Wiese prachtvolle Steinbögen. Sie gehören zu einem nie vollendeten Nymphäum, das auf die Pläne des bedeutenden Baumeisters Bramante zurückgeht. Auch diese unvollendete bauliche Schönheit passt zum neuen Pontifikat. Es ist aus der Zeit von Papst Franziskus viele unvollendet stehen geblieben. Leo XIV. wird entscheiden müssen, in welches der begonnen Projekte er seine Kraft zuerst stecken möchte, und welche Vorhaben unbearbeitet stehen bleiben sollen. Dazu kann ihm der gute Rat der Gottesmutter sicher nicht wertvoll genug sein. Die Kirche baut sich nicht von allein. Der Bau gelingt erst, wenn sie ihre geistliche Herzmitte gefunden hat.

Beitragsbild: Blick auf Genazzano

Nymphäum des Bramante in Genazzano

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