Francesco Petrarca besteigt den Mont Ventoux

Auf fast 2000 Meter erhebt sich einer der markantesten Gipfel Europas. Der sogenannte „Windige Berg“, der „Mont Ventoux“ in der nördlichen Provence ist heute vor allem Radsportlern ein Begriff. In den letzten Jahren war er bei der „Tour de France“  Zielort spektakulärer Bergetappen, die auf den unwirtlichen Schotterpisten des Berges ausgetragen wurden. Vom Gipfel des Mont Ventoux soll man bei gutem Wetter das Mittelmeer sowie die Gipfel der Alpen und der Pyrenäen sehen können. Kein Wunder, dass der Berg schon immer Wanderer zur Besteigung eingeladen hat.

Einer seiner berühmtesten Besucher ist der italienische Humanist und Schriftsteller Francesco Petrarca. Im Jahr 1336 erkletterte er den Mont Ventoux. Wir wissen von diesem Ereignis, weil Petrarca für einen befreundeten Priester, seinen Beichtvater, einen Reisebericht verfasst hat.[1] In diesem Bericht verbindet der Dichter seine äußeren und inneren Erfahrungen. Die Besteigung des Bergs wird für ihn zum Ereignis einer Lebenswende, einer tiefen Einsicht.

Petrarca macht sich mit seinem Bruder und zwei Dienern auf den Weg. Über einfache Eselspfade geht es auf steinigem Grund nach oben. Unterwegs trifft die Wandergruppe einen alten Hirten. Sie fragen ihn nach dem Weg, doch er gibt zur Auskunft, dass er den Weg nicht kenne. Er habe vielmehr einmal selbst versucht, den Gipfel zu erreichen, sei allerdings nur in Dornen und Sträucher geraten.

Die Wanderer lassen daraufhin ihr Gepäck liegen und klettern auf steilen Pfaden weiter. Petrarca scheut die allzu steilen Hänge und sucht nach bequemeren Wegen. Sein Bruder hingegen klettert munter drauflos und gelangt schneller vorwärts als er. Daraufhin stellt Petrarca seine ersten Überlegungen an. Er denkt sich, dass das selige Leben, also das Leben in Vollkommenheit, auf einem hohen Gipfel liegt und nur auf steilem Pfad zu erreichen ist. Was also hält uns auf, diesen hohen Gipfel zu erklimmen? Petrarca schreibt: „Doch wahrhaftig nichts weiter, als dass der Weg durch die irdischen und allerniedrigsten Gelüste ebener ist und […] bequemer. Gleichwohl musst du nach langer Irrfahrt unter der Last des zum Unheil aufgeschobenen Weges hinansteigen zum Gipfel des seligen Lebens selber, oder in den Talgründen deiner Sünden säumig erliegen“.

Die Bergwanderung wird dem Dichter hier zum Anlass, über sein Leben nachzudenken. Als die Gruppe den Gipfel erreicht hat, schaut Petrarca in die Weite und zugleich auf sein eigenes Leben zurück. Solcherart in Betrachtungen versunken, beginnt er in einem mitgebrachten Buch, den Bekenntnissen Augustins zu lesen und findet den Satz: „Und die Menschen gehen, um die Gipfel der Berge zu bestaunen […] und haben nicht acht ihrer selbst.“ Petrarca ist erschüttert. Er beschließt, vor der Schönheit um ihn herum die Augen zu schließen und sich von jetzt an vor allem um die Schönheit seiner Seele zu kümmern. Um ihren Aufstieg, so sagt er, muss es ihm doch eigentlich gehen. Schweigend tritt der Dichter daraufhin den Rückweg an. Die Bergtour ist ihm zutiefst innerliches Erlebnis geworden, ein Exerzitium, eine geistliche Übung.

Das Evangelium berichtet von der Besteigung des Berges der Verklärung, auf die Jesus seine Jünger und mit ihnen auch uns mitnimmt. Der Bericht ist die Reisenotiz derjenigen, die dort eine Erfahrung machen. Er nimmt uns in ihre Betrachtungen mit, beschreibt, was geschehen ist, ohne es für uns gleich zu sehen und zu deuten. Wir können uns mit den Jüngern auf den Weg machen.

Die Etappen sind ähnlich wie die, die Petrarca beschrieben hat. Er erzählt ja zuerst von der Begegnung mit dem Hirten. Dies ist der erste Wendepunkt, mit dem sich die meisten Menschen irgendwann konfrontiert sehen. Es geht um die Entscheidung darum, den Weg des Glaubens und der Gotteserfahrung überhaupt zu wagen. Den Weg gebe es nicht, sagt Petrarcas Hirte. Es gebe nur Dornen und Gestrüpp, in denen man sich verfangen kann. Die Suche des Glaubens wird aussichtlos bleiben. Die Mühen lohnen nicht. Der Gipfel ist im Grunde eine falsche Verheißung, ein falsches Ziel.

Wer diesen Punkt überwunden hat, muss die weitere Route wählen. Es gibt verschiedene Wege. Die bequemen sind dabei die nahliegenden. Sie verheißen, auf einfachem Weg, also ohne große Anstrengung nach oben zu kommen. Sie tragen aber auch die Gefahr des Irrwegs in sich. Bei nur sanfter Steigung lässt sich das eigentliche Ziel schnell aus den Augen verlieren. Es braucht zumindest immer wieder die Anstrengung, wirklich nach oben zu streben.

Wie die Jünger ihren Weg bestritten haben, wissen wir nicht. Sie gelangen auf dem Gipfel an. Sie sehen Jesus in überirdischem Licht. Der Gipfel hält tatsächlich die versprochene Schönheit bereit. Angesichts dieser Erfahrung lässt sich das eigene Leben, die eigene Geschichte betrachten. Mose und Elija diskutieren mit Jesus. Sie stehen für die Geschichte Israels, für das Gesetz und die Lehren der Propheten, von denen her sich die Gestalt Jesu erschließt.

Wer die Erfahrung des Glaubens gemacht hat, kennt das. In der Schönheit des Glaubens stellt sich das eigene Leben anders da, es bekommt eine eigene Deutung. Es regt dazu an, mehr über Gott wissen zu wollen. Und es birgt die Versuchung, diese Zeit festhalten zu wollen, so als könne man auf dem Gipfel bleiben.

Doch die Erscheinung verschattet sich. Die Wolke legt sich über die Szene. Dies ist vielen Menschen eine Enttäuschung. Die Strahlkraft des Glaubens dauert zunächst nur eine Zeit. Das Gefühl des Glaubens und der Gottesnähe verdunkelt sich. Es ist nicht beständig. Der Gipfel ist eben nicht der Endpunkt. Bei Petrarca ist diese Erkenntnis mit einer Hinwendung zu sich selbst verbunden. Was zählt wirklich? Die Schönheit des Ortes, oder die Schönheit des eigenen Inneren? Aus der Gipfelerfahrung wird ein nachdenklicher Prozess der Neuausrichtung. Petrarca geht im Schweigen zurück.

Auch die Jünger schweigen. Das Evangelium erwähnt dies ausdrücklich. Was sie gesehen haben, hat sich ihnen innerlich noch nicht erschlossen. Es ist noch nicht ins Leben reintegriert worden. Auf die Wanderung des Körpers hin, hat sich nun auch die Seele auf den Weg gemacht. Sie muss sich noch weiter bilden. Das vergessen viele. Sie haben den Eindruck, der Glaube sei so etwas wie eine Bergtour von einer Erfahrung zur nächsten. Dabei ist sein Hauptwesen das Schweigen und Hinabsteigen, sein Wirken in den Niederungen. Das Eigentliche kommt noch. Die Bewährung steht noch aus. So ist es bei den Jüngern und bei mir selbst auch.

Nach seiner Wanderung auf den Mont Ventoux nahm sich Petrarca Zeit, um in den darauffolgenden Jahren sein Hauptwerk, die „Canzoniere“ zu schreiben. Es war offensichtlich die Zeit zum Nachdenken und Arbeiten gekommen. Die Forscher bezweifeln übrigens, ob Petrarca den Ventoux wirklich bestiegen hat. Für jemanden, der die Erfahrungen der Seele allerdings für wichtiger hielt als die äußeren Begebenheiten seines Körpers und seiner Geschichte, ist das allerdings auch ziemlich unwichtig. Mindestens auf eine innere Reise hat er uns als Leser auch 700 Jahre danach noch mitgenommen.    

Beitragsbild: Bergwanderung, allerdings nicht am Mont Ventoux, sondern im Nationalpark Geres (Portugal), 


[1] Francesco Petrarca, Die Besteigung des Mont Ventoux, Übersetzung von Hans Nachod und Paul Stern, Frankfurt 1996.

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