Wahlempfehlungen?

Am kommenden Sonntag wird in Deutschland der neue Bundestag gewählt. Dass wir auf die Wahl zugehen, ist im Straßenbild nicht zu übersehen. Die Parteien fassen ihre Ziele und Vorhaben auf den Plakaten in kurze Sätze, um uns als Wähler für sie zu interessieren. Wer eine Partei wählt, wählt ein Programm mit verschiedenen Inhalten. Wer wählt, weiß zugleich, dass ein Parteiprogramm noch kein Regierungsprogramm ist. In unserer Demokratie ist es üblich, dass sie mehrere Parteien zu einer Regierung zusammenschließen werden. Es werden einige, aber nicht alle Wahlversprechen erfüllt werden.

Welche Partei hätte eigentlich Jesus gewählt? Ich habe mir die Frage angesichts des heutigen Evangeliums gestellt (Lk 6, 20-26). Die Feldrede bei Lukas, die in weiten Teilen der Bergpredigt bei Matthäus entspricht, ist schließlich eine Grundsatzrede Jesu, in der er seine Auslegung des jüdischen Gesetzes darlegt. Dieses Gesetz regelte nicht nur die religiösen, kultischen Bereiche, sondern auch das soziale Leben. Es umschreibt die Regeln einer Gesellschaft. Das jüdische Gesetz ist dabei göttlichen Ursprungs. Es reflektiert Gottes Willen in Bezug zur menschlichen Gemeinschaft.

Es ist daher alte Tradition, dass die kirchliche Verkündigung nie eine rein religiöse, private gewesen ist, sondern immer auch eigene Vorstellungen des öffentlichen Lebens formulierte. Es hat mich daher überrascht, dass es im Zuge des laufenden Wahlkampfs viel Empörung darüber gab, dass sich Bischöfe oder kirchliche Gremien zu politischen Fragen geäußert haben: Dies sei eine ungebührende Einmischung in den Wahlkampf. Ich habe den Eindruck, dass diese Beschwerden eher deswegen aufkamen, weil die Bischöfe Dinge gesagt haben, die vielen nicht gefallen haben. Sie haben auf ein paar christliche Grundsätze aufmerksam gemacht: Gerechtigkeit, sozialer Ausgleich, Frieden, ein humanitärer Umgang miteinander, Schutz des menschlichen Lebens, Gewährung der Grundfreiheiten und die Bewahrung der Schöpfung. Eigentlich ist das nichts Ungewöhnliches. Es sind klassische Ziele, die sich aus dem Evangelium und der katholischen Tradition, insbesondere der Soziallehre ableiten. In zugespitzten politischen Zeiten sind diese Aussagen gleich gelabelt worden (wie man heute so sagt) – die Kirchen hätten sich einem links-grünen Mainstream an den Hals geworfen. Es scheint mir ein wenig so zu sein, wie es beim kirchlichen Lehramt häufig ist. Wenn gesagt wird, was man hören möchte, verweist man gerne darauf, wenn etwas gesagt wird, was man nicht hören möchte, dann diskreditiert man diejenigen die es sagen. Das ließe sich durch die vergangenen Jahrzehnte leicht nachweisen.

Welche Partei also hätte Jesus heute wohl gewählt? Die Frage ist zunächst einmal unsinnig. Jesus lebte in einer Welt, die es so nicht mehr gibt. Er lebte nicht in einer Demokratie, sondern in einem System der Königs- und Fremdherrschaft. Er hat es sogar abgelehnt, selbst politisch tätig zu werden, als die Menschen in ihm den Messias und damit den wahren jüdischen König erkannten. „Mein Königtum ist nicht von dieser Welt“, so hat er es gesagt. Er bedenkt die Welt aus der Sicht der göttlichen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit und er zeigt die Defizite dieser Welt deutlich auf. Bis zum Reich Gottes, im geistlichen, wie auch gesellschaftlichen Sinn, ist es noch weit. Wir haben es bis heute nicht erreicht. Im Zentrum der Bergpredigt steht die Suche nach größerer Gerechtigkeit. Sie ist vor allem ein moralischer Text, der sich an die Herzen der Menschen wendet.

Ich möchte Sie auf eine kleine Zeitreise mitnehmen, zu einem Text, der schon gut 125 Jahre alt ist. Im Jahr 1891 verfasste Papst Leo XIII. seine Enzyklika „Rerum Novarum“. Dieser Text gilt als Grundlage der modernen kirchlichen Soziallehre. Es war die Zeit, in der sich die modernen Nationalstaaten in Europa herausbildeten. Die absoluten Monarchien wurden langsam durch neue politische Systeme abgelöst. Zugleich war es die Zeit der Industrialisierung und der Entstehung der Arbeiterschaft, bei der die marxistischen und sozialistischen Theorien großen Anklang fanden. Wie sollte man also einen christlichen Weg zur Gerechtigkeit beschreiben? Papst Leo löst das Problem mit Blick auf die Logik der Bergpredigt wie folgt auf:

„Aus der Betrachtung dieses göttlichen Vorbilds wird es leichter zu verstehen, dass der wahre Wert und die wahre Würde des Menschen in seinen moralischen Eigenschaften liegen, das heißt in der Tugend; dass Tugend außerdem das gemeinsame Erbe aller Menschen ist, das für Hoch und Niedrig, Reich und Arm gleichermaßen erreichbar ist; und dass Tugend, und nur Tugend, wo immer sie gefunden wird, die Belohnung ewigen Glücks nach sich zieht. Ja, Gott selbst scheint sich eher denen zuzuwenden, die Unglück erleiden; denn Jesus Christus nennt die Armen „selig“. Er lädt die Mühseligen und Beladenen liebevoll ein, zu ihm zu kommen, um Trost zu finden und er zeigt die zärtlichste Nächstenliebe gegenüber den Niedrigen und Unterdrückten. Diese Überlegungen werden den Stolz der Wohlhabenden zwangsläufig unterdrücken und den Unglücklichen Mut machen; sie werden die ersteren dazu bewegen, großzügig und die letzteren dazu, in ihren Wünschen gemäßigt zu sein. So wird die Trennung, die der Stolz aufrichten würde, verschwinden, und es wird auch nicht schwer sein, Reiche und Arme in freundschaftlicher Eintracht zusammenzubringen.“ (Rerum Novarum Nr. 25)

Papst Leo präsentiert hier einen verblüffenden Gedanken: Er glaubt an das Gute im Menschen. Er geht davon aus, dass die Frage der Gerechtigkeit zunächst die eines ausgeprägten Gewissens ist. Wer „Tugend“ hat, also einen moralischen Kompass, der das Wohl des eigenen Lebens und auch der Allgemeinheit im Blick hat, der wird gute Entscheidungen treffen. Unter dem Einfluss der „Tugend“ ist der soziale Ausgleich etwas, das sich von allein ausprägen müsste. Insofern sieht er die Aufgabe der Kirche darin, diesen moralischen Kompass mitzuprägen. Wählen sollte man also diejenigen, denen man diese Tugendhaftigkeit zutraut oder in deren Programmen man Tugendhaftigkeit entdecken kann.

Welche Partei Jesus gewählt hätte, bleibt Spekulation. Welche Partei Sie wählen, ist Ihre Entscheidung. Vielleicht können aber der Gedanke der Gerechtigkeit aus der Bergpredigt und der Tugend Elemente auf der Suche nach einer guten Entscheidung sein.

3 Kommentare zu „Wahlempfehlungen?

  1. Ist es sehr wahrscheinlich, dass Jesus eine Partei gewählt hätte, die ihre „Nächsten“, also die, die uns brauchen, schon zurückschickt, ehe sie ihr Anliegen vorbringen können, die von den zwei (+ 20) Hemden, die sie haben, denen keines gibt, die nackt herumlaufen und die nicht auf die Straßen gehen und die „Niedrigen und Beleidigten“ zum Mahl einladen? Hat er uns nicht gesagt: Selig sind die Barnherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen ?!

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