Gebet und Geschäft – Wie das „Heilige Jahr“ entstand

Papst Franziskus hat das Jahr 2025 als Heiliges Jahr ausgerufen. Er folgt damit einer langen römischen Tradition. Die Heiligen Jahre sind vor allem Gelegenheiten, zu denen Pilger nach Rom eingeladen werden. Die Öffnung der vier „Heiligen Pforten“ an den Päpstlichen Basiliken, den Hauptkirchen Roms leiten das Jahr ein. Die Pilger sollen diese vier Kirchen, St. Johannes im Lateran, Sta. Maria Maggiore, St. Peter und St. Paul vor den Mauern besuchen. Ein besonderer Jubiläumsablass gilt dabei als geistlicher Anreiz zur Pilgerreise. Der Vatikan erwartet 2025 ungefähr 30 Millionen Wallfahrer aus der ganzen Welt. Es handelt sich also um die größte christliche Wallfahrt der Welt.

Theologisch lässt sich bei der Tradition des Heiligen Jahres an der Idee des Sabbatjahres aus dem Alten Testament anknüpfen. Auch hier ging es um eine besondere Zeit (Ex 23, 10ff.). In Anknüpfung an das Sieben-Tage-Werk der Schöpfung sollte jedes siebte Jahr ein Ruhejahr sein, an dem die Böden nicht bestellt wurden. Nach sieben Sabbatjahren galt das folgende Jahr als „Jubeljahr“, an dem Schulden erlassen, Sklaven und Gefangene freigelassen wurden. Dies vollzog sich also alle 50 Jahre. In Rom knüpfte man zwar an diese biblische Tradition an, ging aber schon früh zu einem 25-Jahr-Rhythmus über. Zudem nutzten die Päpste die Möglichkeit, zusätzliche Heilige Jahre zu besonderen Anlässen auszurufen. So wurde von Papst Johannes Paul II. das Jahr 1983 als Jubeljahr gefeiert (in Gedenken an das Todesjahr Christi). Papst Franziskus bestimmte 2015 zu einem Heiligen Jahr der Barmherzigkeit, das nicht nur in Rom, sondern auf der ganzen Welt gefeiert wurde.

Der Ursprung der römischen Tradition liegt weit zurück, allerdings nicht so weit, wie man meinen könnte. Es lohnt daher, einen kirchengeschichtlichen Ausflug in das erste Heilige Jahr zu machen. Die Reise führt in das Hohe Mittelalter.[1]

Im Jahr 1292 fand eines der längsten Konklave der Geschichte statt. 27 Monate brauchten die Kardinäle, um sich auf einen neuen Papst zu einigen. Das Papsttum war zu dieser Zeit schwach und stand in Abhängigkeit der politischen Protagonisten der Zeit. Der mächtigste Mann auf der italienischen Halbinsel war Karl von Anjou, ein Sohn des französischen Königs. Er hatte in Neapel ein neues Königreich geründet, zu dem neben Süditalien auch Sizilien gehörte. Im Vergleich zu den sonstigen kleinen Fürstentümern in Italien war hier eine Großmacht entstanden, die ihren Einfluss in Rom geltend machte. Ihm folgte sein Sohn, Karl II. von Anjou. Als nun (wieder einmal) ein neuer Papst gewählt werden sollte, konnten sich die Kardinäle nicht einigen. Es wurde nach einem Kompromisskandidaten gesucht. Am Ende wählte man einen Außenseiter, Pietro del Murone, einen Asketen und Einsiedler. Vielleicht hoffte man, mit der Wahl eines spirituellen Führers neue Akzente für die Kirche setzen zu können. Es gab aber ein Problem. Pietro, der den Papstnamen Coelestin V. annahm, war zum Zeitpunkt seiner Wahl schon 85 Jahre alt. Im Juli 1294 machte er sich auf den Weg nach Rom. Vielleicht war es seinem Alter geschuldet, dass Coelestin die Unmöglichkeit erkannte, als Papst zu regieren. Wahrscheinlich hat auch der Einfluss Karls II. eine Rolle gespielt, dem in der Linie seines Vaters offenbar ziemlich egal war „wer unter ihm Papst ist“. Coelestin dankte schon nach wenigen Monaten ab und war damit der erste Papst in der Geschichte, der zurücktrat. Sein Nachfolger, Benedetto Caetani, war so ziemlich das Gegenteil Coelestins. Er hatte bereits eine lange Karriere in päpstlichen Diensten hinter sich gebracht und galt Karl II. als guter Kandidat, um weiterhin dessen eigene politische Agenda zu verfolgen. Aber Karl hatte sich geirrt. Benedetto, bei seiner Wahl knapp 60 Jahre alt, wurde als Papst Bonifaz VIII. zu einem der prägendsten und mächtigsten Päpste der Geschichte. Auf den frommen Einsiedler folgte nun ein außerordentlich politische Papst.

Zunächst hielt Bonifaz Abstand zu Karl, dessen Königreich sich in einem heftigen Konflikt mit dem Haus Aragon (Spanien) befand. Der neue Papst vermittelte einen Frieden zwischen den beiden Parteien und befriedete damit auch die italienische Halbinsel. Dann wandte er sich der Stadt Rom zu. Es begann eine Zeit des Aufbaus, in der auch die päpstlichen Basiliken renoviert und instandgesetzt wurden. Bonifaz beauftragte führende Künstler seiner Zeit, für ihn zu arbeiten. Rom erlebte eine neue Blüte. 1302 stand Bonifaz auf der Höhe seiner Macht. In seiner Bulle „Unam Sanctam“ stellte er das Verhältnis zwischen König und Papst neu auf und behauptete einen Primat (also eine Vorherrschaft) der geistlichen Gewalt über die weltliche. Bonifaz entwickelte die Lehre von den zwei Schwertern. Er legte die Bibelstelle Lk 22,38 aus, in der Petrus bei der Verhaftung Jesu auf zwei Schwerter hinweist, die in seinem Besitz sind. Bonifaz schreibt:

Dass diese [die Kirche] über zwei Schwerter zu verfügen hat, ein geistliches und ein weltliches, das lehren uns die Worte des Evangeliums (Lk 22, 38). Denn als der Apostel sagte: „Siehe, hier sind zwei Schwerter“, nämlich in der Kirche… da antwortete der Herr nicht: „Es ist zu viel!“ sondern: „Es ist genug!“ Wer nun sagt, in des Petrus Hand sei das weltliche Schwert nicht, der merkt nicht recht auf des Herrn Wort, der da sagt: „Stecke dein Schwert in die Scheide!“ (Mt 26, 52). Beide Schwerter hat die Kirche in ihrer Gewalt, das geistliche und das weltliche. Dieses aber ist für die Kirche zu führen, jenes von ihr. Jenes gehört dem Priester, dieses ist zu führen von der Hand der Könige und Ritter, aber nur wenn und solange der Priester es will. Ein Schwert aber muss dem anderen untergeordnet sein; die weltliche Macht muss sich der geistlichen fügen. Denn der Apostel sagt: „Es ist keine Obrigkeit außer von Gott, wo aber Obrigkeit besteht, ist sie von Gott verordnet“ (Röm 13, 1). Sie wäre aber nicht geordnet, wenn nicht ein Schwert unter dem anderen stände und gleichsam als das niedere von der Hand eines anderen nach oben gezogen würde.

Das Zitat spiegelt das Selbstbewusstsein des Papstes deutlich wider. Es ist also dieses Umfeld, in dem das erste Heilige Jahr entstand: Friede in Italien, ein neuer Aufschwung der Stadt Rom, ein selbstbewusstes Papsttum. Und noch eins kam hinzu: 1291 hatten die Mamelucken das Heilige Land erobert und die letzten christlichen Kreuzfahrer vertrieben. Jerusalem, das eigentliche Pilgerziel der Christen war bis auf weiteres nicht mehr zugänglich. Der Papst lenkte nun das Wallfahrtsziel um. Statt Jerusalem könne man auf der Suche nach Vergebung und Seelenheil auch nach Rom zu den Gräbern der Apostel pilgern. So entstand die Idee des Heiligen Jahres, das für das Jahr 1300 ausgerufen wurde. Als Anreiz zur Pilgerschaft wurde ein besonderer Jubiläumsablass, also ein Nachlass der zeitlichen Sündenstrafen verfügt, der den Rompilgern zugutekommen sollte. Der Kirchenhistoriker Arnold Angenendt merkt dazu allerdings an, dass der Ablass zum Jubiläumsjahr ursprünglich gar nicht vom Papst intendiert, sondern vielmehr von den anströmenden Pilgern eingefordert wurde. Man berief sich auf eine nicht belegbare vorherige Praxis. Bonifaz VIII. ließ daraufhin „ergebnislos das Archiv durchsuchen und gewährte dann jenen vollkommenen Ablass, wie er für die Kreuzfahrer üblich war, natürlich unter der Bedingung von Reue und Beichte, zusätzlich verbunden mit dem Besuch der römischen Hauptkirchen, aber ohne verpflichtende Geldspende“.[2] Dass mit der Menge der Pilger de facto auch Geld nach Rom floss, war sicherlich ein willkommener Nebeneffekt. Das erste Heilige Jahr präsentiert sich also als eine Mischung aus geistlichen und politischen Ambitionen. Das Rom-Marketing, das mit dem Jubiläumsjahr verbunden war, hielt allerdings nicht lange. Schnell gelangte das Papsttum nach Bonifaz VIII. wieder in politische Abhängigkeiten zu Frankreich, in deren Folge sich der Sitz des Papstes für einige Zeit nach Avignon in Südfrankreich verlagerte.

Wie auch immer, das Heilige Jahr wurde ein Erfolg. Tatsächlich strömten die Pilger nach Rom. Nach damaligen Beobachtern sollen es 200 000 gewesen sein. Die Menge der Menschen hinterließ bei den Zeitgenossen einen bleibenden Eindruck, so sehr, dass Dante ihn in seiner göttlichen Komödie (geschrieben ab 1307) festgehalten hat. Dort heißt es:

Im Jubeljahr, ein Mittel jüngst ergriffen,
Den Übergang der Brücke zu befördern,
Dass alle, mit der Stirn‘ nach dem Kastelle,
Auf einer Seite gen Sankt Peter wallen…

Wenig schmeichelhaft ist es, dass der Verweis auf der Heilige Jahr im 18. Canto der Beschreibung der Hölle zu finden ist. Dante vergleicht den Andrang auf der Tiberbrücke nach St. Peter (die später „Engelsbrücke“ genannt wird) mit dem Andrang der Massen, die von höllischen Schergen zusammengetrieben werden. Dies spricht auf der einen Seite für das eindrückliche Treiben der Pilgermassen, auf der anderen Seite natürlich auch für einen leichten Spott, mit dem Dante das Geschehen betrachtet.

Der Pilgeransturm ist verständlich. Schließlich hatte Bonifaz angeordnet:

„Wir verordnen denjenigen, die wirklich einen solchen Ablass empfangen wollen, den wir den genannten Basiliken gewährt haben: Wenn sie Römer sind, sollen sie dies mindestens dreißig aufeinanderfolgende Tage ununterbrochen und mindestens einmal am Tag tun [die Kirchen besuchen]; wenn sie Pilger oder Ausländer sind, so sollen sie das nur fünfzehn Tage lang tun. Jeder wird umso mehr Verdienste und Ablässe erhalten, je großzügiger und frommer er die Basilika besucht.“[3]

Die Wallfahrt war also eine aufwändige Angelegenheit. Wenn die Pilger die Auflagen für den Ablass tatsächlich eingehalten haben, mussten die päpstlichen Basiliken im Heiligen Jahr rund 10 000 Besucher pro Tag bewältigen.

2025 werden es noch deutlich mehr Besucher sein. Die Stadt hat sich vorbereitet. Viele Denkmäler sind in den vergangenen Jahren renoviert worden. Die Videos der Romreisenden aus den letzten Monaten zeigten vor allem Baugerüste vor dem Trevibrunnen, der Piazza Navona und an anderen historischen Stätten. Zudem hat der Vatikan eine große Merchandise-Kampagne aufgelegt. Das Logo des Heiligen Jahres ziert T-Shirts, Mützen und Messgewänder. In der offiziellen Jubiläums-App finden sich Verbindungen zu Werbepartnern, die günstige Handytarife oder Sparmenüs in Fast-Food-Läden anbieten. Neben dem geschäftlichen soll aber das Geistliche nicht zu kurz kommen. Papst Franziskus hat dem Jahr das Motto „Pilger der Hoffnung“ gegeben. Es ist sicherlich ein gutes Motto für unsere Zeit. Franziskus schreibt:

Wir brauchen nämlich Hoffnung, wir alle brauchen sie. Die Hoffnung trügt nicht, vergessen wir das nicht. Ihrer bedarf die Gesellschaft, in der wir leben, und die oft in der bloßen Gegenwart versunken und unfähig ist, in die Zukunft zu blicken; ihrer bedarf unsere Zeit, die sich so manches Mal in der Freudlosigkeit des Individualismus und des „durchs Leben schlagen“ müde dahinschleppt; ihrer bedarf die Schöpfung, die durch menschlichen Egoismus schwer verwundet und verunstaltet ist; ihrer bedürfen die Völker und Nationen, die voller Sorgen und Ängste in die Zukunft blicken. […] Wir alle brauchen Hoffnung: unsere manchmal mühseligen und verletzten Lebensgeschichten; unsere Herzen, die nach Wahrheit, Güte und Schönheit dürsten; unsere Träume, die keine Dunkelheit auslöschen kann.“[4]

Beitragsbild: Fassade von Sta. Maria Maggiore, Rom


[1] S. auch für das Folgende: Desmond O’Grady, Alle Jubeljahre, Freiburg 1999.

[2] Arnold Angenendt, Geschichte der Religiösität im Mittelalter, Darmstadt 1997, 655f.; Bonifaz VIII., Bulle „Antiquorum habet“, DH 868.

[3] Antiquorum habet fida relatio – Wikisource

[4] Heilige Messe zum Hochfest Christi Himmelfahrt – Übergabe und Verlesen der Bulle der Verkündigung des Heiligen Jahres 2025 und zweite Vesper (9. Mai 2024) | Franziskus; S. auch die Verkündigungsbulle: Spes non confundit – Verkündigungsbulle des ordentlichen Jubiläums des Jahres 2025 (9. Mai 2024) | Franziskus

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