Um das Jahr 100 herum wurde in Nablos in Palästina ein Mann namens Justinus geboren. Er war wahrscheinlich der Sohn griechischer oder römischer Siedler. Justinus schlug den Weg eines Philosophen ein. Er lernte in unterschiedlichen Schulen und wurde ein ausgemachter Platoniker, also ein Anhänger der Lehren Platons. Irgendwann in seinem Leben, die Umstände sind nicht bekannt, erfuhr sein Leben eine Wende. Wie er berichtet, ließ er sich eines Tages von einem alten Mann, einem Christen, in ein Gespräch verwickeln. Der Mann machte ihn mit den christlichen Schriften vertraut. Justinus vertiefte sich in die Lehre des Christentums und näherte sich dem Glauben immer mehr an. Er erkannte die Wahrheit, die in den Schriften steckt und wurde zu einem Wanderprediger. Seine philosophische Ausbildung half ihm, den christlichen Glauben auf Augenhöhe mit den gebildeten Zeitgenossen zu diskutieren. So sind von Justinus zwei Streitschriften überliefert, eine mit einem Juden und eine mit einem römischen Heiden, in denen er das Christentum gegen den Glauben der anderen verteidigt und erklärt.
Justinus nutzte die Methode der griechischen Philosophie, den Dialog. Erst im Gespräch mit dem Andersdenkenden oder Andersgläubigen kommt die Wahrheit zum Vorschein. Erst, wenn ich die Ansichten des anderen ernst nehme, kann ich mit eigenen Argumenten darauf eingehen und hoffen, dabei überzeugend zu sein. Die Wahrheit ist also hinter den Worten verborgen, sie kommt erst langsam zum Vorschein. Das Johannesevangelium schildert diesen Prozess auf seine Weise ganz deutlich. Gottes Sohn, sein ewiges Wort (man könnte auch sagen, seine Wahrheit) kommt als Mensch in die Welt. Aber die Welt nimmt die Wahrheit nicht einfach an. Jesus überzeugt erst langsam in seinem Wirken die Menschen von sich und seiner Sendung, durch Zeichen und Reden versucht er, sie für sich zu gewinnen. Das Wort Gottes reibt sich an den Antworten der Menschen, auf die es trifft.
Im platonischen Denken, von dem sicher auch das Johannesevangelium beeinflusst ist, macht das durchaus Sinn. Je konkreter die Wirklichkeit ist, desto mehr verbirgt sich die Idee, die hinter ihr steht. Aber die Idee ist in allem vorhanden, wenn auch vielleicht schattenhaft oder unzureichend ausgeführt, anfragbar oder für unterschiedliche Deutungen offen. Justinus gibt auf dieses Phänomen seine eigene Antwort. Er sagt: Jeder Mensch ist mit Vernunft begabt. Der Gebrauch der Vernunft durch die Menschen, selbst bei Menschen ohne ausdrücklichen Glauben an Christus, geht bereits auf Wirken von Christus, dem Logos zurück. „Wir wurden gelehrt“, erklärt er, „dass Christus der Erstgeborene Gottes ist, und wir haben erklärt […], dass er das Wort ist, an dem alle Menschen teilhaben, und dass diejenigen, die vernünftig lebten, Christen sind, auch wenn sie für Atheisten gehalten wurden.“ (Justinus, Apol. I, 46.1-4). Alle Weisheit, die der Mensch entdeckt, kommt von Gott. Die Menschen können sie mit ihrer Vernunft entdecken. Aber erst, wenn sie den Glauben haben, verstehen sie die Weisheit der Welt von innen heraus. Für Justinus gibt es daher in jedem Menschen „Die Samen der Wahrheit“ (logoi spermatikoi). Das eine Wort Gottes hat also seine Spuren in jedem Menschen, in allem Geschaffenen hinterlassen. Im Dialog geht es darum, diese Wahrheit herauszuarbeiten, sie in gewisser Weise wiederzufinden und zu einem Ganzen zusammenzusetzen.
Man mag diesen philosophischen Ansatz als veraltet ansehen. Aber auch in ihm zeigt sich natürlich Weisheit. Es ist eine Weisheit, die uns heute manchmal fehlt. Es geht um die Anerkennung des anderen und seiner Lehre und Weisheit, auch dann, wenn uns diese Weisheit und Lehre nicht passt. Ich kenne das selbst aus Gesprächen mit Menschen, die nicht glauben oder mit bestimmten Glaubensfragen nichts anzufangen wissen. Sobald wir nicht als Menschen sprechen, die sich und ihre Wahrheit gegen den anderen abschirmen, entsteht im Dialog eine erweiterte Sicht auf die Wahrheit. Wir beide müssen unsere Überzeugungen und Argumente überprüfen und werden dazu herausgefordert, unsere eigene Denkweise zu schärfen und zu vertiefen. Papst Franziskus hat dieses Prinzip immer wieder stark gemacht. Er setzt in seinem synodalen Prozess auf das Gespräch und Gebet als Mittel der Wahrheitsfindung, die, nach einem seiner berühmten Worte, „polyedrisch“ ist, also viele Seiten hat, von denen man auf sie schaut.
Die Evangelien des Weihnachtsfestes geben dazu die Anregung. Sie fordern mich heraus, meine Position zu Gottes Sohn, der als Kind in der Krippe liegt, zu finden. Wer ist dieser Jesus für mich, von dem gesagt wird, dass bei ihm die ganze Wahrheit zu finden ist. Unser Beten ist ein Dialog mit Gott, in dem meine Wahrheit, die Wahrheit meines Lebens von ihm angeschaut, angefragt und beschienen wird. Der Weg zur Wahrheit ist leider kompliziert. Die einfache Wahrheit gibt es nicht, sondern nur die, die sich durchdacht, durchgesprochen, durchbetet hat. Dann aber kann sie auf umso schönere Weise strahlen.
Ut ad core absolutum malum non potest ad homines. Ante malum, bonum est nihil.
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