Was erzählt das heutige Evangelium(Mk 9,30-37)? Um diese Frage zu beantworten, muss ich mich fragen: Was lese oder höre ich aus dem Text heraus? Ich verstehe den Text aufgrund meines Vorwissens, meiner Erfahrungen, meiner Denkmuster und auch meiner Gefühle, die sich beim Hören oder Lesen melden. Ich sage Ihnen einmal meine Hörerfahrung. Ich vermute, dass Sie bei vielen von Ihnen ganz ähnlich sein werden.
Der Text hat gefühlt drei Teile. Der erste: Jesus erzählt den Jüngern von dem Schicksal, das er als Messias erleiden wird. Er berichtet von seiner Auslieferung, seinem Leiden, Sterben und Auferstehen. Diesen Abschnitt höre ich zunächst einmal relativ neutral, da er mir aus meinem christlichen Wissen heraus wenig Neues erzählt. Tod und Auferstehung Jesu werden mir in fast jedem Gottesdienst vor Augen gestellt. Anders als bei den Jüngern ist diese Information für mich nicht neu und nicht schockierend.
Dann kommt der zweite Abschnitt. Die Jünger reden auf dem Weg miteinander und diskutieren, wer unter ihnen der Größte / der Wichtigste ist. Dieser Abschnitt ist für mich ärgerlich. Wie kommen die Jünger dazu, angesichts der Ankündigung von Leiden und Sterben über Machtfragen zu diskutieren?
Im dritten Teil erteilt Jesus den Jüngern daher eine Lektion. Er sagt: Nur, wer bereit ist, der Kleinste und Unbedeutendste zu sein, der wird groß und mächtig sein. Er stellt als Beispiel dafür ein Kind in die Mitte. Die Frage ist: Wer wäre bereit, einem solchen machtlosen Kind zu dienen? Aber genau so sollen sich die Jünger ihren Dienst an Jesus vorstellen. Dieser Abschnitt hat meine Sympathie. Dies hat vor allem mit dem Kind zu tun. Kinder sind in unserer Welt Sympathieträger. Aber Vorsicht: Es geht hier gar nicht unbedingt um das Kind. Jesus hätte zur Verdeutlichung auch eine arme Witwe als Beispiel wählen können, einen Kranken oder einen heimat- und rechtlosen Flüchtling.
Wenn man allein diese kleine Anmerkung zur Rolle des Kindes hinzuzieht, dann verändert sich der Blick auf das Evangelium schon wieder. Es wird ungleich anspruchsvoller, vielleicht auch anstößiger.
Lösen wir uns also für einen Augenblick vom ersten Hör- oder Leseeindruck. Ich glaube, dass das Evangelium etwas sehr Grundlegendes erzählt, vielleicht sogar einen Kern der christlichen Botschaft, die Botschaft von der andersartigen Herrschaft. Diese Botschaft ist ziemlich revolutionär.
Ich möchte Ihnen dazu ein kleines Gedankenexperiment vorstellen. Es stammt nicht von mir, sondern von dem französischen Schriftsteller Laurent Binet. Er hat es in seinem Roman „Eroberung“ durchgeführt.[1] Der Roman spielt in den Jahren um 1530. Es ist die Zeit der großen Eroberungen. Die Portugiesen und Spanier segeln in die neue Welt, nach Amerika. Sie treffen dort auf die Ureinwohner, die Inka, Maya und die anderen Völker. Sie unterwerfen die dortigen Völker und kolonisieren ihre Gebiete. In Spanien herrscht ein mächtiger König. Er führt im Inneren einen Krieg gegen seine Gegner. Der Katholizismus ist Staatsreligion. Krone und Kirche bilden eine unheilige Allianz. Die Kirche unterstützt die Herrschaft. Die kirchliche Inquisition wird zu einem Machtinstrument, um unliebsame oder politisch gefährliche Gegner aus dem Weg zu räumen. Europa ist religiös in Aufruhr. Es sind die Jahre der Reformation. England bricht mit der katholischen Kirche und gründet eine eigene Staatskirche. Es ist die Zeit des Humanisten Erasmus von Rotterdam und des späteren Reformators Martin Luther. In diese Situation hinein stellt der Autor des Romans nun sein Denkexperiment. Was wäre passiert, wenn die Geschichte anders verlaufen wäre? In seiner Geschichte sind die Inka Südamerikas mit den Spaniern technisch auf Augenhöhe. Sie nutzen das Ankommen der ersten Europäer auf ihrem Kontinent, um auf den neu entdeckten Schiffsrouten nach Spanien zu segeln. Einem Inkafürsten gelingt es durch geschickte Politik und Eroberungen, die spanische Krone zu besiegen. Die Inka werden zu den Herrschern Europas. Sie bringen ihre Werte, ihre Vorstellungen, ihre Gesellschaftsentwürfe und ihre Religion nach Europa. Unsere Welt heute würde so ganz anders aussehen. Im Roman schaffen die Inka die absolutistische Herrschaft ab. Sie erreichten ein System der religiösen Toleranz, das die Religionskriege beendet. Sie schaffen eine neue Kultur. Nun, das ist alles Phantasie eines Schriftstellers. Aber es ist etwas Faszinierendes daran. Die Frage ist ja: Was wäre passiert, wenn nicht die europäischen Herrscher sich durchgesetzt hätten, sondern diejenigen, die sie besiegt und unterdrückt haben die Herrscher geworden wären?
Das Evangelium stellt genau dieses Gedankenexperiment an. Es geht aber noch weiter. Es sagt: Das ist nicht nur ein Gedankenexperiment, sondern es ist wirklich passiert. Das Christusereignis verändert alles. Der wahre Herrscher ist nicht der, der in der Welt reich und mächtig ist. Der wahre Herrscher ist Christus, der in der Welt den letzten Platz eingenommen hat. Er war machtlos. Er wurde verachtet, er wurde verurteilt, er wurde hingerichtet. In den Augen der Welt war sein Leben bedeutungslos. Der Thron der Herrschaft wurde durch Gottes Wirken auf diesen letzten Platz verschoben. „Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen“ (Lk 1,52). Christus regiert vom letzten Platz aus. Wer ihm dient, der dient dem letzten Platz. In den Kleinen, Machtlosen, Geringen, Ausgeschlossenen, in denen, die wir auf diesem letzten Platz sehen, begegnen wir ihm wieder. Das haben die Jünger damals nicht verstanden. Und sind wir ehrlich: Wir verstehen es meist auch nicht.
Heute ist der Caritassonntag. In der Logik der Welt bedeutet dies: Diejenigen, die viel besitzen, die oben stehen, geben den Armen etwas ab. In der Logik des Glaubens heißt dies: Die Geringen sind in Christus die wahren Herrscher, die Großen. Wenn wir ihnen etwas geben, dann tun wir unseren Dienst, weil wir in ihnen Christus sehen und erkennen, so wie die Jünger ihn im Evangelium im kleinen Kind erkennen sollen. Wer den Geringen annimmt, der nimmt Jesus an und den der ihn gesandt hat. Der Dienst am Armen ist eine Verneigung vor Gott. Ich denke, wenn wir es so sehen, dann haben wir die Anstößigkeit, aber auch die Größe des heutigen Evangeliums besser verstanden. Wir nehmen mit den Jüngern an der Lektion teil, die Jesus ihnen erteilt. Es kommt halt darauf an, das Evangelium wieder neu zu lesen und zu verstehen.
Beitragsbild: Denkmal der Entdeckungen in Lissabon (Portugal), Ausschnitt.
[1] Laurent Binet, Eroberung, Hamburg 2020.
Hallo Georg,
Danke für Deine Predigt, die mir sehr aus dem Herzen spricht. Ich lebe in einem Land der krassen Unterschiede, das aber zu den freundlichsten der Welt gehört. Die Armut geht vor meiner Haustür täglich zu hunderten vorbei – die materielle Armut. Die Freundlichkeit tut es auch genauso und hundertfach. Beides wird in diesem Land bleiben. Ich versuche irgendwie mit beiden Schritt zu halten. Allerdings möchte ich nicht so arm sein und in einer Hütte leben müssen, aber freundlich möchte ich bleiben.
Mir sagt die Predigt zu. Hoffentlich verstehen wir sie.
Hoffentlich konntest Du ein wenig verstehen, was ich meine. 😉
Einen lieben Gruß zum Sonntag,
Br. Benedikt
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Lieber Benedikt,
Vielen Dank für Deine Nachricht und die Grüße. Ich kann den Zwiespalt gut nachvollziehen. Man darf die Armut nicht verklären. Niemand soll in Armut leben müssen. Daher kommt der Einsatz gegen sie. Mir war vor allem wichtig zu sagen, dass uns die Armen wertvoll sein müssen.
Viele Grüße aus Schwerin
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