Königin Mutter [zu Mariä Himmelfahrt]

Es mag verwundern, dass für das Hochfest der Himmelfahrt Mariens das Evangelium vom Besuch der Gottesmutter bei Elisabeth ausgewählt wurde. Auf den ersten Blick ist in ihm nichts über das heutige Festgeheimnis ausgesagt. Dass Maria nach ihrem Tod mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen wurde, wird in der Heiligen Schrift nicht berichtet. Es gibt eine christliche Schrift vom Ende des 4. Jahrhunderts, in dem die Himmelfahrt legendarisch beschrieben wird.[1] Demnach wurde Maria ihr Sterben durch einen Engel angekündigt. Er brachte ihr einen Palmzweig aus dem Himmel mit, so wie damals die Taube mit einem Ölzweig zu Noahs Arche zurückkehrte. Der Zweig war ein Symbol des neuen Lebens, das auf sie wartete. Angesichts der Botschaft des Engels ging Maria auf den Ölberg zum Gebet. Auf wundersame Weise wurden die Apostel am Sterbetag Mariens von allen Enden der Welt zu ihr geführt. In einer feierlichen Prozession übertrug man Marias Leichnam zu einem Felsengrab. Nach drei Tagen wälzte ein Engel den Stein vom Grab und Maria wurde durch Engel in die himmlische Herrlichkeit zu ihrem Sohn begleitet.

Unschwer zu erkennen ist hier, dass Marias Sterben in der Legende dem ihres Sohnes gleichgestaltet wird. Wie der Sohn, so auch die Mutter. Wie konnte es auch anders sein? Papst Pius XII. bemühte 1950 bei der Dogmatisierung der Aufnahme Mariens in den Himmel genau dieses Argument. Er schrieb:

„[Die Heilige Schrift] stellt uns nämlich die gütige Mutter Gottes gleichsam vor Augen als mit ihrem göttlichen Sohn verbunden und sein Los immer teilend. Deswegen scheint es beinahe unmöglich, sie, die Christus empfing, gebar, mit ihrer Milch nährte und ihn in den Armen hielt und ihn an ihre Brust drückte, von demselben nach ihrem irdischen Leben, wenn nicht der Seele, so doch dem Leibe nach getrennt zu sehen.[2]

Das allein ist sicher kein Beweis, mehr ein Hinweis auf das Los, das Maria vorherbestimmt war. Es ist aber ein wertvoller Hinweis. Wir haben es hier nicht mit frommer Marienlyrik des 19. Jahrhunderts zu tun, sondern mit einem Denken, das tief in der biblischen Theologie verankert ist.

Der entscheidende Satz aus dem heutigen Evangelium lautet: „Wer bin ich, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt“. Die Bezeichnung „Mutter des Herrn“, die Elisabeth wählt, ist keine reine Sachbeschreibung. Maria ist hier nicht bloß aufgrund biologischer Fakten Mutter des Herrn. Vielmehr haben wir es wohl mit einem Ehrentitel zu tun.

Der Bibelforscher Brant Pytre hat dazu erhellende Zusammenhänge zum Alten Testament aufgezeigt.[3] Ihm zufolge hat die „Mutter des Herrn“, die „Mutter des Königs“ im israelischen Denken eine besondere Bedeutung. In jüdischer Tradition wird als „Königin“ nicht die Frau, sondern die Mutter des Königs bezeichnet. Sie gilt in dieser Eigenschaft als die große Fürsprecherin beim König, der die Anliegen des Volkes in besonderer Weise anvertraut werden (s. z.B. 1Kön 2, 13-18, Jer 13,18). Wer etwas beim König erreichen möchte, kann sich an seine Mutter wenden. Die „Mutter des Herrn“ ist in dieser Logik zugleich die Anrede der „Königin“.

Auf erstaunliche Weise trifft hier die biblische, jüdische Tradition auf die christliche Verehrung Marias, der die Titel „Mutter Gottes“ und „Königin“ gegeben werden. Das II. Vatikanische Konzil hat diese Erhöhungstheologie im Bezug auf Marias Aufnahme in den Himmel noch einmal betont. Die Konzilsväter schreiben, dass Maria in die himmlische Herrlichkeit aufgenommen wurde, „um vollkommener ihrem Sohn gleichgestaltet zu werden […].“[4]

Von hier ist es ein kleiner Schritt zu uns, die heute dieses Evangelium hören. „Wer bin, das die Mutter meines Herrn zu mir kommt“ – diesen Satz können alle sagen, die Jesus als Herrn anerkennen. Mit dem heutigen Fest verbindet sich die Verehrung Mariens, die Bitte um Fürsprache in unseren eigenen Anliegen, aber vor allem auch eine Hoffnung: Die himmlische Herrlichkeit ist nicht verschlossen. Die Aufnahme Mariens als erste der Geschöpfe ist ein Bild für unsere eigene Hoffnung. Als Menschen dürfen wir auf die Annahme durch Gott hoffen, auf Liebe, die sich auch nach dem Tod noch offenbaren wird. Wie in der Marienlegende reicht vielleicht auch mir der Engel den Zweig als Zeichen des Himmels zu, als Vorausblick auf eine Heimat, zu der hin wir glaubend unterwegs sind.


[1] Anonym, Der Heimgang der Seligen Maria, in: Schindler (Hg.), Apokryphen zum Alten und Neuen Testament, Zürich 1988, 707-720.

[2] Pius XII., Apostolische Konstitution „Munificentissimus Deus“ (DH 3900)

[3] Brant Pytre, Jesus and the Jewish Roots of Mary, New York 2018, 71-99.

[4] Lumen gentium 59.

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