Wurzeln und Flügel

Zur Geburt oder Taufe eine Kindes gibt es ein paar Zitate, die den Eltern besonders gerne mitgegeben werden. Eines dieser Zitate soll von Johann Wolfgang Goethe stammen, auch wenn sich das nicht wirklich belegen lässt. Das Zitat lautet: „Zwei Dinge sollten Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.“ Ein schöner Satz. Er enthält zwei Metaphern. Die erste bezieht sich auf das Wachstum. Wer wie ein Baum Wurzeln hat, der steht im Leben auf festem Grund, seiner Familie, seiner Erziehung, der übermittelten Werte, Regeln und des Glaubens. Mit festen Wurzeln kann der Baum auch harte Winter oder Dürren überstehen. Aus der Kraft der Wurzel wird er sich immer wieder erneuern können.

Die zweite Metapher betrifft die Flügel. Hier wird das Bild eines heranwachsenden Vogels aufgenommen, der so lange von seinen Eltern gefüttert und beschützt wird, bis er in der Lage ist, aus dem Nest fortzufliegen und sein Leben alleine zu bestreiten. Bezogen auf das Kind ist mit den Flügeln die Fähigkeit zur Selbstständigkeit gemeint, bezogen auf die Eltern die Freiheit, die sie ihrem Kind ermöglichen sollen.

Das Zitat ist also sehr sprechend, auch wenn es natürlich nur auf metaphorischer, nicht aber auf wörtlicher Ebene funktioniert, denn wer im Boden verwurzelt ist, kann natürlich nicht fliegen und wer fliegt, kann nicht gleichzeitig verwurzelt sein.

Auch Jesus verwendet im Evangelium (Joh 15,1-8) eine Metapher. Die Situation ist die Folgende. Nach dem letzten Abendmahl hält Jesus den Jüngern im Johannesevangelium eine lange Rede. Es sind gewissermaßen letzte Verfügungen und Erklärungen für die Zeit, in der er nicht mehr bei ihnen ist. Aus dieser Rede sind die Abschnitte über das Gebot der Liebe und der Abschnitt über den Weinstock sicher am bekanntesten. Auch hier geht es um das Verhältnis von Gemeinschaft und Freiheit.

Der Weinstock ist ein Gewächs mit besonders tiefen Wurzeln. Sie haben feine Verästelungen und können bis zu 20 Metern lang werden. Es ist also nur der kleinere Teil der Pflanze oberirdisch zu sehen, im Winter nicht mehr als der Stamm. Wer zu dieser Jahreszeit durch einen Weinberg geht, sieht nur ein paar kurze, kahle Stämme, die aus der Erde ragen. Treibt der Weinstock aus, bilden sich die kleinen Äste, die Rebzweige. An ihnen bilden sich die Blätter und Blüten, später dann die Früchte, die Trauben, die aus den einzelnen Beeren bestehen.

Jesus bezieht das Bild auf sich und seine Jünger. Er selbst ist auch nach seinem Tod der Weinstock, der fest und für alle Zeiten gepflanzt ist. Die Jünger vergleicht er mit den Reben, die durch die Zeiten immer wieder neu wachsen und schließlich Frucht bringen sollen. Wer in der Lebensgemeinschaft, also im Glauben, im Wort, im Gebet, in den Sakramenten mit Jesus verbunden ist, der wird aus der Kraft des Weinstocks Frucht bringen. Diese Früchte sind die Zeichen eines guten und gelingenden Lebens.

„Zwei Dinge sollten Menschen haben, Wurzeln und Flügel“. Ich habe das Eingangszitat einmal so abgewandelt. Bei den Wurzeln würde das Evangelium also voll zustimmen. Wie ist es mit den Flügeln? Ganz grob darf man für unsere heutige Zeit annehmen, dass die Eigenschaft der Flügel vielen Menschen als sehr wichtig erscheint. Freiheit wird häufig als möglichst große Eigenständigkeit und Selbstbestimmung verstanden. Zuweilen gilt es sogar als verdächtig, zu lange bei seinen Wurzeln zu bleiben – als ob man so in seiner Kindheit stecken bleiben würde und nie ein eigenständiger Mensch werden könnte.

Jesus weist diesen Gedanken eher zurück. Eine Rebe, die sich vom Weinstock getrennt hat, bleibt unfruchtbar (Joh 15,4). Das Konzept der Freiheit ist hier ein anderes. Wer am Weinstock bleibt, dem bieten sich ungeahnte Wege und Möglichkeiten: „Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, dann bittet um alles was ihr wollt, ihr werdet es erhalten“ (Joh 15,7). Die Freiheit ist hier nicht eine vollkommene Wahlfreiheit, sondern eine Freiheit, die in Treue eine Entscheidung getroffen hat und so auf festem Grund steht. Erst von diesem festen Ausgangspunkt (Glaube, Gemeinschaft, Familie, Tradition, Kultur) aus, kann sie sich verwirklichen. Kann man ein solches Freiheitsverständnis heute noch glaubhaft vertreten?

In der letzten Woche kam ich an einem Abend mit jungen Menschen zu einer Diskussion zusammen. Es ging um christliche Werte und um die Frage, ob das Christentum für die Teilnehmer noch eine Bedeutung hat. Einer der Teilnehmer gab dabei ein beeindruckendes Zeugnis. Er sagte, er sei in einer atheistischen Familie aufgewachsen. Glauben, Gebet, Gottesdienst – all das kam in seiner Kindheit nicht vor. Aber er sagte, er habe mittlerweile dafür ein Gefühl entwickelt. Im Grunde, so meinte er, sei doch jeder Mensch irgendwie religiös, selbst, wenn er sich das nicht eingestehen möchte. Er selbst habe nicht mehr als eine Ahnung. Diese Ahnung sei, dass es hinter dem sichtbaren Leben jemand oder etwas gebe, dem er sich verdankt und der oder das es gut mit ihm meint. Diese Ahnung gebe ihm für das Leben einen festen Halt.

Im Grunde hatte der junge Mann hier in eigenen Worten eine Definition des Glaubens gegeben, wie sie der evangelische Theologe Friedrich Schleiermacher im 19. Jahrhundert entwickelt hat. Der Glaube, so Schleiermacher, basiere auf einem „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit“. Damit ist ziemlich genau das gemeint, was mein Gesprächspartner beschrieben hatte. Es ist das Gefühl des Menschen, das Leben in der unsichtbaren Verbindung mit Gott zu leben. Man könnte also von den unsichtbaren Wurzeln sprechen. Gottes Zusage ist die der festen Verankerung, der Achtsamkeit, Liebe und Treue gegenüber seinen Geschöpfen.

Beitragsbild: Weinstöcke an der Basilika von Schloss Johannisberg, Rheingau 

Ein Kommentar zu „Wurzeln und Flügel

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