Es gab einmal eine Zeit, in der Kirchen „Jesus, guter Hirte“ genannt wurden. Eine Gemeinde mit diesem Namen ist wahrscheinlich in den 70er Jahren entstanden. Man suchte nach neuen, sprechenden Bildern, die die christliche Gemeinschaft prägen konnten. Es war auch die Zeit der großen Begeisterung für das Urchristentum. Man stellte sich es so vor: In den Anfängen der christlichen Antike gab es kleine, geschützte Hauskirchen, solidarische Gemeinschaften, die durch ihren starken Zusammenhalt geprägt waren. Dies war ein Gegenbild zur Volkskirche der 50er Jahre, in der das Christentum vor allem als soziale Größe wahrgenommen wurde und der Kirchenraum vom Lied „Ein Haus voll Glorie schauet“ widerhallte. Das damals (in den 70ern) moderne Christentum sollte anders sein, bewusster, gemeinschaftlicher, demokratischer. Aus „Kirche“ sollte „Gemeinde“ werden.
Für diese Art der Kirche knüpfte man bei den frühen Christen an. In den römischen Katakomben, den Begräbnisorten unter anderem der Christen, hatte man Zeichnungen und Symbole gefunden, die für diese „alte“ und doch „zukünftige“ Zeit standen. Eines dieser Bilder war der Schafträger, ein Hirte, der auf seinen Schultern ein Lamm oder eine Ziege trug. War das eine Darstellung des „Guten Hirten“, der Gleichnis des Evangeliums das eine Schaf suchte und die 99 zurückließ? Sah man hier eine Jesusfigur, die nahbar, freundschaftlich und fürsorgend war? Die Forschung konnte das so nicht bestätigen.[1] Man fand heraus, dass das Bild des Schafträgers nicht unbedingt ein christliches sein musste. Der Hirte war vielmehr auch ein fester Bestandteil des heidnisch-römischen Bilderkanons. Als das römische Reich im Zuge der immer neuen Kriege und des zunehmend unübersichtlichen zuweilen lasterhaften und unsicheren Zustands der Politik und der Stadtgesellschaft in innere Krisen geriet, sehnte man sich nach der vermeintlich heilen Welt des Landlebens zurück. Die Hirten auf den grünen Feldern waren Bilder einer versöhnten Gegengesellschaft, die sich der Komplexität und Unübersichtlichkeit der profanen Welt entzog. Hier auf den Weiden war Entspannung, Lust und Einfachheit zu finden.
In den Eklogen des Vergil, Gedichten aus der Zeit der ersten Cäsaren, heißt es über einen alten Hirten, der auf seinem gewohnten Weideland bleiben durfte:
„Du hast Glück gehabt, alter Mann, hier zwischen den bekannten Flüssen und den heiligen Quellen wirst du im Schatten die Ruhe finden. Hier wird dich wie gewohnt von der benachbarten Grenze die Hecke, deren Weidengebüsch von den hybläischen Bienen geweidet wird, mit sanftem Gesumme einschlafen lassen; hier wird der Baumscherer am Fuß des hohen Felsens sein Lied in die Lüfte erklingen lassen, und dennoch werden währenddessen weder die dumpf gurrenden Ringeltauben, die du so liebst, noch die Turteltaube von der luftigen Ulme zu gurren aufhören.“[2]
Beschrieben wird hier ein Idyll von geradezu magischer Schönheit. Während der eine Hirte in diesem Idyll weiden darf, ist der andere Hirte des Gedichtes, der die eben zitierten Zeilen sagt, von seinem Land vertrieben worden. Er ist ein Opfer der Politik geworden, die ihn enteignet hat und muss in fremden Weidegebieten sein Glück suchen. Vergil skizziert hier den unfreien und den heilen Zustand der gesellschaftlichen Verhältnisse.
Welcher dieser beiden Hirtengestalten kommt Jesus am nächsten? In der Zeit der „Gute-Hirten-Kirchen“ dachte man wahrscheinlich eher an das Idyll. Die Gemeinde sollte ein Gegenentwurf zur unfriedlichen Welt sein, eine Oase der Gemeinschaftlichkeit und Nächstenliebe. Ist das aber realistisch? Das Evangelium schildert durchaus eine andere Seite des Hirtendaseins. Im Johannesevangelium spricht der Hirte in eine Situation der permanenten Bedrohung hinein. Die Schafe sind ohne ihn orientierungslos. Sie sind durch wilde Tiere gefährdet und durch schlechte Verwalter, den „bezahlten Knechten“, denen eigentlich an den Schafen nichts liegt. Der „Gute Hirt“ kämpft gewissermaßen um das Leben und damit übertragen um das Heil der Schafe.
Die Sehnsucht nach Idylle ist auch heute stark. Das Berliner Umland soll es von Menschen wimmeln, die der Großstadt entfliehen möchten und von einem übersichtlichen und entspannten Leben auf dem Land träumen. Ich glaube, das dies nur ein Symptom einer Fluchtbewegung ist, die tiefer geht. Wir hätten es häufig gern einfacher. Unsere moderne Welt überfordert uns. Auch kirchlich sehnt sich mancher nach dem Ideal der überschaubaren, kleinen Gemeinschaft zurück, die vor den Anfragen und Bedrohungen der Zeit zu schützen vermag. Ich kann diese Sehnsucht gut verstehen.
Denken wir uns aber einen Moment Jesus als Guten Hirten nicht als den Hirten der bukolischen Idylle. Denken wir uns ihn einmal als den anderen Hirten in Vergils Gedicht. Es wäre ein Christus, der mitten in den Anfechtungen und Komplexitäten der Welt unterwegs ist, der von seinem ursprünglichen Land vertrieben wurde. – Ein Hirte, der darum kämpfen muss, dass seine Stimme irgendwie gehört wird, einer, der von zahlreichen anderen Stimmen, die die Schafe locken und besitzen wollen umgeben ist; ein Hirt, der sich darin verausgabt, wenigstens die größten Gefahren für Leib und Seele eindämmen zu wollen. Ich halte ein solches Hirtenbild im Augenblick für das realistischere. Es spricht mehr zu mir. Ich erlebe die Unübersichtlichkeit und auch Anfechtung der Zeit, in der das Christentum eine kleine Gruppe wird durchaus als verwirrend und zum Teil bedrohlich. Ich kann diese Situation nicht ausblenden. Ich sehe keine heile Welt, in die ich mich flüchten könnte. Aber gerade in dieser Zeit will ich doch den Guten Hirten an meiner Seite haben, eben dann, wenn es nicht glatt läuft, wenn das Leben herausfordernd ist. Mein guter Hirte ist zur Zeit eher eine kämpferische Gestalt, die sich nicht scheut, sich im Dickicht der Welt zu verlieren. Denn gerade dort sind doch die verlorenen Schafe zu finden – zumindest, wenn ich das Gleichnis vom Guten Hirten richtig verstanden habe.
Guter Hirte, Kirchenfenster in der Dresdner Wasserkirche
[1] Ich verdanke den Hinweis darauf Alex Stock, Poetische Dogmatik, Christologie, Bd. 4, 137ff.
[2] Der ganze Text: Vergil, ecloge 1: Meliboeus und Tityrus (lateinisch, deutsch) (gottwein.de)