Die Wirklichkeit des Krieges lässt uns nicht kalt. Im Gespräch mit Jugendlichen berichteten diese mir, dass sie in den letzten Wochen über TikTok immer wieder Videos erhalten würden, die das Leiden im Gazastreifen zeigen. Das Schicksal der Menschen, die vor dem Militär fliehen, die ihre Wohnungen verloren haben und kaum wissen, wovon sie überleben können, beschäftigte sie sehr. Die Jugendlichen sagten sogar, dass sie sich schuldig fühlen, zumindest aber hilflos. Was können wir tun angesichts des Leidens?
Als mir die Jugendlichen das erzählten, war ich alarmiert. Es ist noch gar nicht lange her, da hatte ich in einem Vortrag in St. Anna gehört, dass die Hamas, die palästinensische Terrororganisation, das Leiden der Bevölkerung gezielt für ihre Zwecke einsetzt. Sie lässt die Videos aus dem Kriegsgebiet verbreiten, um Menschen weltweit auf die Seite der Palästinenser zu ziehen. Hier das leidende Volk, dort der Aggressor Israel. Ich machte die Jugendlichen darauf aufmerksam.
Was sollen wir tun? Es kann sein, dass das Leiden zu Propagandazwecken verwendet wird. Aber das Leiden ist doch real. Es ist aber nicht nur auf einer Seite, sondern auf der anderen genauso. Es gibt auch das Leiden der Verwundeten und Hinterbliebenen, der in Geiselhaft Entführten, das der blutige Terror der Hamas in Israel geschaffen hat.
„Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit“ – das soll ein amerikanischer Senator zu Beginn des Ersten Weltkriegs gesagt haben. Gemeint war damit: Der Krieg ist immer auch ein Kampf um die Deutungshoheit. Die Propaganda versucht immer, die eigene Seite und Sicht zu verteidigen und die des Feindes zu diskreditieren. Ein neutraler Blick ist kaum möglich. Das Leiden wird parteiisch vereinnahmt. So ist es wohl in allen Kriegen gewesen und so ist es heute auch. Propaganda versucht auch, Ursache und Wirkung umzukehren. Die Angreifer suchen sich Gründe zur Rechtfertigung. Bei diesen ist es nicht so wichtig, ob sie wahr oder stichhaltig sind. Es reicht, wenn die Leute sie glauben. Der Krieg ist immer auch ein Krieg um seine Darstellung.
Heute an Karfreitag schauen wir auf das Leiden Christi. Wir kennen die Bilder der Passion gut. Sie sind uns im großen Kreuz über dem Altar immer sichtbar vor Augen. Wir finden sie an den Kreuzwegstationen an den Seitenwänden. Jeder Besuch in einer Kirche konfrontiert uns mit dem Leiden Christi.
Auch dieses Leiden ist in der Geschichte instrumentalisiert worden. Es wurde zu Propagandazwecken genutzt. Christen verwendeten es gegen die Juden. Sie machten sich selbst mit Jesus zum Opfer und identifizierten die Juden als Feinde. Dabei übersahen sie wohlweislich, dass Jesu Sendung zunächst der Erneuerung des Volkes Israel galt, dass seine Jünger und auch ein großer Teil der ersten Christen Juden waren.
Das Leiden Christi lässt sich nicht für eine Seite, für ein Volk, für einen Teil der Geschichte vereinnahmen. Es ist von universeller Natur. Jesus stirbt an der Sünde, um die Sünde zu besiegen. Er geht in die Nacht des Todes, um den Tod zu bezwingen. Die Bilder des Leidens lassen sich nur ertragen, weil in ihnen bereits der Kern zur Überwindung des Leidens steckt.
Im letzten Sommer war ich im belgischen Ypern. Das ist eine Stadt, in der sich das Grauen des Krieges eingezeichnet hat. Im ersten Weltkrieg wurde Ypern zum Kampfgebiet der Stellungskriege, in denen sich die feindlichen Truppen aus Deutschland, Frankreich, England, USA und Kanada gegenüberstanden. Bis heute ist die Gegend von Kratern gezeichnet, die ehemaligen Frontlinien sichtbar machen. Im Boden liegen noch immer Granaten. Hier wurde Giftgas eingesetzt, um den Feind zu besiegen. Die Soldaten liegen auf riesigen Friedhöfen begraben. Es sind Hunderttausende.
In der wiederaufgebauten Kathedrale von Ypern habe ich eine Darstellung Jesu gesehen: Ein ausgemergelter Körper, sitzend, eine große Dornenkrone auf dem Kopf, an den Händen Fesseln. Der verurteilte Jesus auf dem Weg zur Kreuzigung. Die Figur steht einfach so in einem der Seitenschiffe. Die Menschen gehen um sie herum. Der leidende Christus, mitten unter uns.
Wer ist dieser Christus: ein Franzose, ein Deutscher, ein Palästinenser, ein Israeli, ein Ukrainer, ein Russe? Er ist alles dies und keins von diesem. „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“, sagt Jesus vor Pilatus: „Ich bin nicht Bote für eine eurer politischen Fragen. Ich verkünde in meinem Leiden eine Wirklichkeit, die größer ist. Es geht um die Erlösung für alle Welt und alle Zeiten, die ihr in mir finden könnt.“
Der Jesus von Ypern ist schlicht der Leidende, der uns daran erinnert, dass dieses Leiden überwunden werden soll. Die Figur fordert zum Widerstand gegen das Leiden selbst. Auf diese Weise betrachten wir das Leiden Christi am Karfreitag. Es soll in uns den Einsatz und die Hoffnung auf Gott stärken, der in die unerlöste Welt das paradoxe Wort der Erlösung spricht.
Beitragsbild: Jesusstatue in der Kathedrale von Ypern