Franz Kafka hat eine kleine Erzählung geschrieben mit dem Titel „Eine kaiserliche Botschaft“. Sie ist im Kern ein Denkexperiment. Man stelle sich vor, der Kaiser, also die höchste Majestät habe eine Nachricht, die nur für dich selbst bestimmt ist. Kurz vor seinem Tod gibt der Kaiser diese Botschaft an einen Diener weiter, lässt sie sich noch einmal wiederholen und schickt den Diener dann auf die Reise. Kafka schreibt dann:
„Der Bote hat sich gleich auf den Weg gemacht; ein kräftiger, ein unermüdlicher Mann; einmal diesen, einmal den andern Arm vorstreckend, schafft er sich Bahn durch Menge; findet er Widerstand, zeigt er auf die Brust, wo das Zeichen der Sonne ist; er kommt auch leicht vorwärts, wie kein anderer. Aber die Menge ist so groß; ihre Wohnstätten nehmen kein Ende. Öffnete sich freies Feld, wie würde er fliegen, und bald wohl hörtest du das herrliche Schlagen seiner Fäuste an deiner Tür. Aber statt dessen, wie nutzlos müht er sich ab; immer noch zwängt er sich durch die Gemächer des innersten Palastes; niemals wird er sie überwinden; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Treppen hinab müsste er sich kämpfen; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Höfe wären zu durchmessen; und nach den Höfen der zweite umschließende Palast; und wieder Treppen und Höfe; und wieder ein Palast; und so weiter durch Jahrtausende; und stürzte er endlich aus dem äußersten Tor – aber niemals, niemals kann es geschehen, liegt erst die Residenzstadt vor ihm, die Mitte der Welt, hochgeschüttet voll ihres Bodensatzes. Niemand dringt hier durch und gar mit der Botschaft eines Toten. – Du aber sitzt an deinem Fenster und erträumst sie dir, wenn der Abend kommt.“
Die Erzählung lässt sich in unterschiedlicher Weise interpretieren. Eine mögliche Auslegung ist, dass Kafka sein eigenes Dasein in der Gesellschaft reflektiert. Er erlebte seine Zeit Anfang des 20. Jahrhunderts als unübersichtlich, vielstimmig und bürokratisch. Im Gewirr der Meinungen, der Vorschriften und Regeln, der Positionen und des allgemeinen Geredes konnte man sich leicht verlieren. Wo blieb die Botschaft, die dem Menschen Halt, einen Sinn und einen festen Stand im Leben geben konnte? Kafka sieht sich vielleicht selbst als Menschen, der am Fenster sitzt und auf das unwahrscheinliche, ja unmögliche Ankommen der Botschaft wartet. Es könnte eine Botschaft der Liebe und des Vertrauens sein, eine Botschaft der Vergebung und Annahme, eine Botschaft, die dem Leben wieder einen festen Grund geben kann.
„Sprich du das Wort, das tröstet und befreit“ – so heißt es in einem Kirchenlied. An Gott gerichtet, ist diese Bitte Ausdruck der Sehnsucht nach seinem Wort, nach der Begegnung mit ihm selbst, nach dem Moment, an dem sein Wort beim Menschen ankommt und Wurzeln schlägt. Aus Gesprächen der letzten Woche habe ich den Eindruck, dass sich derzeit Viele in einer ähnlichen Situation befinden, dass sie das Lebensgefühl von Kafkas Geschichte teilen würden. Alles ist unübersichtlich geworden. Viele erfahren unsere Zeit als orientierungslos. Man verheddert sich leicht in der Vielstimmigkeit der Ansichten, der politischen Positionen, im allgemeinen Gerede und auch in der Unzufriedenheit, die von Vielen geteilt wird. Wo bleibt das „Wort, das tröstet und befreit“? Wir sitzen am Fenster und warten auf die Boten mit dem Wort, dass uns wieder festigt, erdet und Versöhnung schenken kann.
Auch die kirchliche Erfahrung ist durchaus ähnlich – zu viel an Unsicherheit, zu viele Regeln, zu viel Bürokratie, zu viele Probleme, zu viel an menschlicher Meinungsbildung. Wo bleibt die Kraft der Botschaft des Evangeliums? Sie dringt nur schwer durch. Der Sämann, von dem im Evangelium die Rede ist, er hat gerade einen schlechten Lauf. Zu viel seiner Saat fällt auf unfruchtbaren Boden, zu viel wird unter den Dornen erstickt.
Dabei ist das Gleichnis vom Sämann zunächst einmal sehr positiv (Mt 13,1-9). Der Sämann, der das Wort ausstreut, ist unermüdlich. Er nimmt den Misserfolg nicht schwer, weil er weiß, dass der kleine Teil seiner Bemühungen, der Frucht bringen wird, gewaltige Frucht bringt. Die Lage ist niemals aussichtslos.
Ich habe ein konkretes Beispiel gerade wieder erlebt. Am 15. Juli nahm ich am Requiem für den verstorbenen Weihbischof Hans-Jochen Jaschke teil. Er hatte mich damals gefirmt und ich bin ihm über die Jahre häufig begegnet. Ich habe auch viele seine Predigten gehört. Das Erstaunliche war: Egal, worüber er predigte, irgendwann landete er bei einem bestimmten Wort, einem Zitat von Irenäus von Lyon, einem frühen Theologen der Kirche. Das Wort hieß „Die Ehre Gottes ist der lebendige Mensch“. Dieses Wort hatte sich offenbar tief in das Leben des verstorbenen Bischofs eingegraben. Ich vermute, es war ein Wort, dass für ihn den Grund des Glaubens und Lebens zusammenfasste. Dem Menschen die Ehre zu geben, bedeutet, Gott die Ehre zu geben. Im Menschen lässt sich Gottes Herrlichkeit erkennen. Ein solches Wort hatte hier offenbar tiefe Wurzeln ausbilden können und Frucht gebracht für ein ganzes Leben.
In der unübersichtlichen Zeit ist das „Warten am Fenster“ eben doch nicht aussichtslos. Es gibt die berechtigte Hoffnung, dass sich die Botschaft doch ihren Weg bahnen kann. Ich kann die Erfahrung von Gottes befreiender, liebender und vergebender Gegenwart machen, wo Ohr und Herz in der Lage sind, aus dem Getöse der Verunsicherung auszubrechen. Es gilt, das Fenster zu öffnen und zu warten. Das Wort Gottes, das uns in Jesus Christus leibhaft begegnet wird weiter unter uns wirksam sein. Und es kann auch weiter Frucht bringen.