Gegen Ende unseres Studiums, kurz bevor wir als Kapläne in die Gemeinden gingen, erteilte uns unser damaliger Rektor eine wichtige Lektion. Er sagte uns sinngemäß: „Sie gehen jetzt in die Gemeinden und Sie werden dort viel Gutes erleben. Die Leute freuen sich über Sie als junge Priester und werden Sie gut aufnehmen. Die erste Kaplansstelle ist immer etwas ganz Besonderes. Sie können sich darauf freuen. Trotzdem ist vorher der Zeitpunkt, schon einmal über den Abschied zu sprechen. Das ist eigentlich die Königsdisziplin. Gerade am Anfang werden Sie häufiger die Stelle wechseln. Und wenn Sie die Stelle wechseln, denken Sie daran, sich wirklich zu verabschieden. Ich habe genügend Priester erlebt, die immer noch ihrer ersten Jugendgruppe hinterhertrauern, die in der Vergangenheit steckenbleiben. Das hindert sie, neue Aufgaben unvoreingenommen anzugehen. Jede spätere Stelle wird dann nur als ein Abstieg empfunden, weil es eben nicht mehr so ist, wie Sie es am Anfang erfahren haben. Lernen Sie also, Abschied zu nehmen, mit dem Alten immer wieder abzuschließen und die Menschen zurückzulassen, um sich wieder neuen Menschen mit ganzer Kraft widmen zu können.“
Aus unserem Rektor sprach damals natürlich eine Menge Erfahrung, die er selbst an unterschiedlichen Stationen seines Lebens gesammelt hatte. Es sprach aus ihm aber auch seine Prägung als Jesuit. Gerade der Jesuitenorden versteht sich als apostolischer Orden. Ihr Gründer, der Heilige Ignatius, hatte für seine Gemeinschaft festgelegt, dass sie sich dort zur Verfügung stellen würde, wo sie gerade aktuell gebraucht wird. Und wenn sich der Auftrag ändert, sollten die Patres und Brüder bereit sein, sich spontan und ohne lange Diskussionen den neuen Aufgaben zu stellen.
Ich versuche einmal, das Evangelium des Sonntags in dieser Perspektive zu lesen:
In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Aposteln: Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig. Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht würdig. Wer das Leben gewinnen will, wird es verlieren; wer aber das Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen. Wer euch aufnimmt, der nimmt mich auf, und wer mich aufnimmt, nimmt den auf, der mich gesandt hat. Wer einen Propheten aufnimmt, weil es ein Prophet ist, wird den Lohn eines Propheten erhalten. Wer einen Gerechten aufnimmt, weil es ein Gerechter ist, wird den Lohn eines Gerechten erhalten. Und wer einem von diesen Kleinen auch nur einen Becher frisches Wasser zu trinken gibt, weil es ein Jünger ist – amen, ich sage euch: Er wird gewiss nicht um seinen Lohn kommen. (Mt 10,37-42)
Die Grundsituation ist tatsächlich ähnlich zu der, in der ich mich damals am Ende des Studiums befand. Jesus spricht zu den Aposteln, die er in den Dienst nimmt und aussendet. Er formuliert keine generelle Absage an die Eltern oder an die Familie. Jesus ordnet vielmehr die Prioritäten für die Apostel. Er weist sie an, sich ganz für den Dienst in seinem Namen zur Verfügung zu stellen. Sie sollen sich in der apostolischen Verfügbarkeit einüben, also bereitwillig dorthin gehen, wohin sie gesandt werden. Das Wort vom Kreuz, das sie auf sich nehmen sollen, geht in diese Richtung. Ihre Aufgabe kann schwer, gefährlich und unangenehm sein. Die Apostel sollen sie trotzdem auf sich nehmen. Die Gegenwart ist wichtig. Es gibt keinen Rückzugsort in der Vergangenheit, kein Zustand, der eingefroren werden könnte. Die Herausforderungen werden sich verändern und werden auch die Apostel verändern.
Jetzt werden die wenigsten von Ihnen in einem apostolischen Dienst stehen. Sie können das heutige Evangelium vielleicht mit etwas mehr Gelassenheit lesen. Aber ich glaube, dass die angesprochene Tugend des Abschiednehmens für Viele bedenkenswert ist. Es ist die Herausforderung des Lebens, dass es sich immer wieder ändern kann. Dies betrifft nicht nur den Wohnortwechsel, sondern auch die Veränderungen der Familiensituation, die inneren Veränderungen der Persönlichkeit im Laufe des Lebens, die Veränderungen durch Notsituationen, durch Krankheit oder Tod eines geliebten Menschen. An bestimmten Stellen des Lebens werden sich alle vor der Herausforderung des Kreuzes sehen. Es liegt ein Lebensabschnitt, eine Herausforderung eine Veränderung vor mir, die erst einmal unangenehm ist. Kann ich sie annehmen? Gelingt es mir, mich vom Vorherigen zu verabschieden oder werde ich zu einem Menschen, der lieber in der Vergangenheit bleiben möchte? Wenn das so ist, dann werde ich das Neue nur schwer akzeptieren können. Dann werde ich es auch nur mit Widerwillen gestalten wollen. Oder ich werde versuchen, die Vergangenheit wieder zu beleben, also so tun, als ob noch alles so wäre, wie ich es liebgewonnen habe.
Ich merke, dass die Versuchung dazu groß ist. Ich ertappe mich selbst dabei, etwa meine Jugendzeit mit der Zeit Jugendlicher heute zu vergleichen und zu versuchen, den Jugendlichen die Erfahrungen der Vergangenheit vermitteln zu wollen, statt zu schauen, was ihre heutigen Erfahrungen sein können. Die Vergangenheit zu verabschieden heißt ja nicht, die Vergangenheit wertlos werden zu lassen. Es heißt lediglich, die Gegenwart mit anderen Maßstäben messen zu wollen, sie mit ihren ganz eigenen Freuden und Leiden wahrzunehmen und zu gestalten. Die Erfahrung kann dabei sehr hilfreich sein, aber sie ist es nur, wenn es gelingt, sie in die neue Herausforderung hinein zu deuten, sie gegenwartsrelevant auszudeuten.
Natürlich muss ich auch noch etwas zur kirchlichen Situation sagen. Für die Kirche ist angesichts der großen Veränderungen die Tugend des Abschiedsnehmens tatsächlich eine der ganz großen Herausforderungen. Wir sind sowohl in den Gemeinden als auch in der Gesamtkirche sehr von der Vergangenheit getrieben – so ist es zumindest meine Wahrnehmung. Unsere Traditionen haben uns fest im Griff. Das ist ein Hauptgrund, warum Menschen Schwierigkeiten haben, sich bei uns zu Hause zu fühlen. Einige finden in der Kirche von heute nicht mehr das, was sie dort früher gefunden haben. Wir können aber die Kirche nicht die Kirche von 1452, 1870, 1968 oder 1988 sein. Dabei geht es nicht darum, die Tradition zu verabschieden. Es ist ein wenig wie mit der Vergangenheit. Das gelebte Leben wird zu einem Erfahrungsschatz, auf den ich zurückgreifen kann, der zu einer Weisheit wird, an der ich mich orientiere, auch, um mich vor Fehlern zu bewahren. Aber diese Tradition muss auf die heutige Zeit in richtiger Weise angewandt werden. Die heutige Zeit gestaltet sich aus ihren Notwendigkeiten, ihrem Kreuz heraus. Dieses Kreuz soll angenommen werden. Die Weisheit der Vergangenheit wird uns dabei helfen. Sie wird uns davor bewahren, die Gegenwart einfach zur Norm zu erklären. Aber wir können nicht in diese Vergangenheit zurück. Die Apostel hatten von Jesus das nötige Rüstzeug erhalten. Es hat ihnen ermöglicht, die Schwierigkeiten und Bedrängnis ihrer Verkündigung zu meistern, auf die Fragen der Zeit eine Antwort zu finden. Es geht um eine apostolische Verfügbarkeit auch für unsere Zeit, um ein unverzagtes Annehmen der Veränderung, im Geist der Sendung, die von Christus ausgeht.
Titelbild: Renovierung der Pfarrkirche von Neumünster