Auf der einen Seite großer Reichtum, auf der anderen bittere Armut. Auf der einen Seite Gesundheit, auf der anderen Siechtum. Auf der einen Seite ein sorgloses Leben, auf der anderen eines, das vor Sorgen kaum noch lebenswert ist. – Als Jesus das Gleichnis vom reichen Mann und dem armen Lazarus (Lk 16,19-31) erzählt, stellt er diese krassen Gegensätze besonders heraus. Was er zeigt, ist eine ungerechte Welt. Diese Ungerechtigkeit ist nicht gottgegeben. Sie ist Folge einer großen Schuld. Es wäre dem reichen Mann ein Leichtes gewesen, dem Armen aus der größten Not zu helfen. Schon ein kleines Stück seines Vermögens wäre ausreichend gewesen, um die gröbste Not zu lindern. Eine solche Schuld ist kein harmloses Vergehen. Das Gleichnis ist in prophetischer Tradition eines über den rechten Gottesdienst. Dieser bewährt sich eben im Dienst am Nächsten, am Willen, die eigene Schuld zu lindern, zu bereuen und es besser zu machen. Das Geschehen im Himmel macht diesen Zusammenhang deutlich. Als der Reiche bereut, ist es bereits zu spät. Er hätte seine Schuld früher abtragen sollen und sein Leben ändern müssen.
Ich komme gar nicht darum herum, dieses Gleichnis, diese Lehrgeschichte auch in meine Zeit zu lesen. Die Ungerechtigkeit ist ja leicht zu sehen, umso deutlicher, je weiter ich meinen Horizont öffne und über die Grenzen meiner Familie, meiner Stadt, meines Landes hinausschaue. Auch diese Ungerechtigkeit ist nicht gottgegeben, sondern nicht selten Folge von Schuld. Wie soll man diese Schuld abtragen können, um wieder neu zu beginnen?
Jetzt, am 1. Oktober feiern die Juden ihren höchsten Feiertag, „Jom Kippur“, den „Versöhnungstag“. Er trägt den eben genannten Gedanken in sich. Die Schuld des Volkes ist zu groß geworden. Sie hat sich angehäuft. Sie muss abgetragen werden, damit ein neuer Anfang möglich wird. Das Fest wird durch eine Fastenzeit eingeleitet. Das Fasten und die Buße haben den Charakter einer symbolischen Darstellung der Reue – wir haben es falsch gemacht, aber wir wollen es besser machen. Dann wurde zu biblischen Zeiten im Tempel das große Versöhnungsopfer gefeiert. Der Hohepriester betrat das einzige Mal im Jahr das Allerheiligste des Tempels. Er nahm das Blut der Opfertiere mit und sprengte es im Allerheiligsten aus. „Das ist das Blut des Bundes, das vergossen wird zur Vergebung der Sünden.“ Die symbolische Aussage: Wir geben und Gott selbst hin. Unser Leben ist sein Eigentum. Wir vertrauen darauf, dass er es retten wird. Als zweiter Ritus kam hinzu, dass man einen Ziegenbock auswählte. Durch Handauflegung wurde ihm zeichenhaft die Schuld des Volkes aufgeladen. Diesen „Sündenbock“, der nun die Schuldenlast tragen musste, schickte man in die Wüste. Die Schuld wurde so symbolisch weit entfernt.
Dies alles sind Riten, also zeichenhafte Ausdrücke der Versöhnung, die sich die Menschen erhoffen. Für uns wirken sie wahrscheinlich eher fremd und archaisch. Tatsächlich ist uns ja die Idee der Versöhnung sehr nah. Man soll schließlich „mit sich im Reinen sein“, heißt es ja immer. Auch, dass Streit nicht gut ist und es wünschenswert ist, in der Familie und mit Freunden versöhnt zu leben, muss nicht erklärt werden. Der „Sündenbock“ ist leider zum sprichwörtlichen Symbol geworden, weil in den Gesellschaften aller Zeit nach Möglichkeiten gesucht wurde, die Verantwortung für das Unglück und damit letztlich auch das eigene Versagen irgendjemand anderem aufzuladen. Aber der Gedanke, sich mit Gott versöhnen zu müssen, ist fremd geworden. Viele haben doch den Glauben daran verloren, dass ihr Handeln oder Reden abseits des eigenen Umfelds irgendeine Relevanz hat, dass es so etwas geben könnte, wie eine obere Instanz, vor der ich Rechenschaft geben muss, ein Gesetz, dass über meinen selbstgewählten Wahrheiten stehen könnte.
Erstaunlicherweise war es ein ehemaliger Politiker, der in Schleswig-Holstein ein hohes Amt bekleidet hatte, der mir dazu einmal einen guten Gedanken auf den Weg gegeben hat. Er sagte mir damals sinngemäß: „In der Politik müssen Sie immer Entscheidungen treffen. Und jede Entscheidung, die sie für eine Gruppe treffen, ist eine gegen eine andere Gruppe. Eine wirkliche Gerechtigkeit können Sie nie herstellen. Sie müssen entscheiden, nicht, womit Sie sich die wenigsten Feinde machen, sondern, was im Konfliktfall mit Blick auf das Große Ganze das richtige ist. Wenn ich solche Entscheidungen zu treffen hatte, dann habe ich mich abends zum Gebet zurückgezogen. Ich habe mich unter das Gesetz Gottes gestellt und danach gefragt, was aus seiner Sicht das Richtige wäre. Ich wusste, dass es eine Instanz gibt, vor der ich Rechenschaft geben muss. Wenn niemand mehr an eine solche Instanz glaubt, dann entsteht eine Herrschaft, die irgendwann den eigenen Willen für das Absolute hält.“ Diesen Schritt hat der reiche Mann im Gleichnis wohl versäumt – oder, er war zu schwach, das Erkannte auch umzusetzen. Er hat die Schuld weiter angehäuft und nicht abgetragen. Es gab keine Gelegenheit zum Neuanfang mehr. Als Jesus damals seine Mission unter den Menschen beginnt, ruft er als erstes zur Umkehr auf. Jetzt ist die Zeit der Erkenntnis, in der Gottes Wort neu verkündet wird. „Kehrt um und glaubt an das Evangelium“. Jetzt ist die Zeit der Versöhnung, die von Jesus erwirkt wird durch sein eigenes Blut. So steht der Weg der Versöhnung offen – ich muss ihn nur gehen wollen.
Guten Morgen,
danke für den Impuls zum Thema Versöhnung und Jom Kippur. Wie schön wäre es, wenn daraus nicht nur Worte, sondern auch Taten erwachsen könnten. Was bedeutet es aber, wenn das Fest gefeiert und gleichzeitig Krieg geführt wird? Sind unsere Ohren verstopft?
Ein paar Fragen auch zu Ihrem zweiten Impuls (Lk 16, 19-31) im Zusammenhang zu vorherigen Blogbeiträgen von Ihnen: Wo sehen Sie den „rechten Weg“ der Katholischen Kirche? Bei den „Libertären“, die den Sozialstaat verdammen und Turbokapitalismus predigen oder, wie Sie diese Strömung bezeichnen, den „Links-Liberalen“? Oder eher im Schweigen , um sich weder den Unbill der einen noch der anderen Seite zuzuziehen? Papst Franziskus fand klare Worte UND baute Brücken zu allen Gläubigen (und damit meine ich explizit Nicht-Katholiken). Verlässt die Katholische Kirche gerade diesen Weg in der Hoffnung auf mehr Reinheit, Macht und Reichtum?
Heute kam im jesuitischen 3-minute retreat (Loyola) ein Impuls zu Lk 5, 9. In diesem 3-minute retreat finden sich täglich auch Fragen zur Selbstreflexion. Das hilft bei der „Unterscheidung der Geister“. Mit Bezug auf Ihren Blog fällt mir auf, dass in Ihrem Blog die brisanten Themen der Zeit zwar häufig zusammen mit christlichen Impulsen adressiert werden, jedoch ohne Konsequenz und ohne konkreten Standpunkt. Eine Erklärung, was der biblische Impuls für den Einzelnen (oder die Katholische Kirche) in Wort und Tat bedeuten könnte, wäre doch so hilfreich. Und es hilft Wölfe von Schafen zu unterscheiden… was in einer Zeit von fake news und „alternativen Fakten“ der Gemeinde Orientierung geben könnte.
Um Frieden und Versöhnung herzustellen braucht es m.E. klare Worte (und Taten) – das wünsche ich mir von Ihrem Blog. Beste Grüße aus Schwerin, 🐑
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Danke für die Anregung
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Guten Morgen,
ist am 4.10. nicht der Gedenktag des hl. Franz von Assisi?
In St. Anna wird für den 4.10.25 eine Marienmesse angekündigt. – Wird in der Messe auch Platz für das Gedenken an den hl. Franz von Assisi sein? – Ich zitiere die ersten Worte: „auf der einen Seite großer Reichtum auf der anderen bittere Armut“.
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Selbstverständlich denken wir auch an den Heiligen Franziskus
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