Böse dicke Bücher und dunkle Aufklärung
Die USA sind ein Trendmotor für die westliche Gesellschaft. Nicht erst mit der letzten Präsidentenwahl ist deutlich geworden, dass die Gegenbewegung zur beschriebenen liberalen Ordnung der Identitätspolitik einen enormen Schwung bekommen hat. Die Gegensätze der „Woken“ und „Anti-Woken“ prallen, so scheint es, ungeschützt aufeinander. Wo früher der demokratische Grundansatz noch vieles in der Diskussion ausgleichen und vermitteln konnte, ist von seiner mäßigenden Wirkung wenig übriggeblieben. Die Erklärungen für diese Entwicklung waren in Deutschland zunächst etwas hilflos. Man sah in der Tea Party- und der Trump-Bewegung den Aufstand der Zurückgebliebenen, also derjenigen, die mit dem Megatrend „Identitätspolitik“ nicht mithalten konnten und lieber in alten Gesellschaftsmustern verharren. Tatsächlich liest sich die Oberfläche der Bewegung auch so: Nationalismus, Protektionismus, traditionelles Familienbild, konservatives Christentum. Mittlerweile ist deutlich: So wie die „woke“ Seite der Gesellschaft, so hat auch die neue „antiwoke“ Seite ihre eigenen intellektuellen Eliten, die das Denken beeinflussen und den politischen Diskurs lenken möchten. Beide Richtungen wollen in die Zukunft. Sie verstehen sich als progressiv und in weiten Teilen auch liberal – allerdings mit völlig unterschiedlichen Zielen. Es scheint, unter anderen technischen und geschichtlichen Voraussetzungen, ein Remake der linken und der rechten Seite der Romantik zu geben.
Am Anfang der Betrachtung dieser „Gegenseite“ stehen keine philosophischen Texte, sondern Romane. Kaum ein Text ist für die konservativen amerikanischen Eliten so prägend gewesen, wie die Romane „Fountainhead“ und „Atlas Shrugged“ der russischen Immigrantin Ayn Rand (geboren 1905 als Alissa Sinowjewna Rosenbaum, gestorben 1982). Die Bücher, in Amerika in jeder Buchhandlung erhältlich, sind auf Deutsch nur in Kleinverlagen erschienen. Das ist für Millionenbestseller ungewöhnlich. Offensichtlich war man vorsichtig, diese „dicken, bösen Bücher“ voller ideologischer Sogkraft (die ich selbst beim Lesen empfunden habe), einer breiten Öffentlichkeit zu empfehlen. Rand gehört nicht durch Zufall zu den Lieblingsautoren von Donald Trump.[1] Ich könnte mir sogar vorstellen, dass die orange gefärbten Haare des Präsidenten eine bewusste Hommage an Howard Roake, den Helden aus „Fountainhead“ sind, der durch eben diese Haarfarbe aus der Masse hervorsticht. Dieser Howard Roake ist von Beruf Architekt, vom Charakter her ein Mann aus Stahl. Er fühlt sich als Einzelperson nur seinem eigenen unerbittlichen Willen verpflichtet. Seine Gegenspieler sind die Institutionen, die Menschen, die sich vom Willen anderer abhängig machen und sich als Hüter der Gesellschaft fühlen. In „Atlas Shrugged“ wird diese Grundkonstellation noch einmal zugespitzt. Hier treten die heroischen Einzelkämpfer und damit Leistungsträger der Gesellschaft in einen Streik, während die durchbürokratisierte und durchdemokratisierte Welt ins Chaos versinkt. Rand propagiert einen Kult der Individualität. Allerdings sind es bei ihr eben nicht die gesellschaftlich benachteiligten Individuen, die den Diskurs bestimmen (wie im identitätspolitischen Denken), sondern die starken unabhängigen Führungspersönlichkeiten. Nur sie sind in der Lage, Fortschritt, Innovation und Wohlstand zu schaffen. Man muss sie nur lassen.
Dies ist die relativ schlichte, aber zugleich wirkmächtige Grunderzählung der „rechten“ Bewegung. In der „linken“ Bewegung prägt das schwache Individuum den Diskurs, indem es die Gesellschaft auf „Awareness“ („Beachtung“) verpflichtet und den Anspruch stellt, die Gesellschaft in entsprechender Weise „woke“ („aufmerksam“) zu machen. In der „rechten“ Bewegung drückt das starke Individuum der Gesellschaft seinen Diskurs auf, im Glauben, dass nur ein starkes „Leadership“ („Führung“) im letzten Fortschritt und Wohlstand für alle gewährleisten kann. Im Kern sind beide Bewegungen liberal. Sie beide kündigen bestehende Wertkontexte und Traditionen ohne Rücksicht auf Verluste auf. Es gibt keine tradierten Grundregeln, die sie als verbindlich akzeptieren müssen. Man mag hier an die Regierungspolitik Donald Trumps denken.
Allerdings ist Trump nur ein Teil der Bewegung. In amerikanischen Think Tanks, in politikwissenschaftlich, juristischen und philosophischen Kreisen hat der eben beschriebene neue „rechte“ Diskurs schon seit längerer Zeit Fuß gefasst. Einer der prominenten Vertreter der Bewegung, die sich selbst als „Neoreaktion“ („NRx“) oder auch „Dunkle Aufklärung“ bezeichnet, ist der Blogger, Self-Made-Philosoph und Aktivist Curtis Yarvin.[2] Ursprünglich gehörte er eher dem linkliberalen Spektrum an, nahm sich nach dem Verlust seines Jobs in der Mobilfunkbranche eine Auszeit und verkündete 2007 in seinem Blog: „Neulich bastelte ich in meiner Garage herum und beschloss, eine neue Ideologie zu bauen.“ In zahlreichen Interviews, die auf Youtube zu finden sind, legt Yarvin die Grundzüge seines Denkens dar. Gefragt nach dem Zustand der Demokratie in den USA, antwortet er, dass wir uns aus seiner Sicht nicht mehr in einer Demokratie, sondern in einer „Oligarchie“ befänden.[3] Damit ist aber nicht die Vorherrschaft wirtschaftlicher oder politischer Eliten gemeint. Yarvin bezog sich mit dem Begriff „Oligarchie“ auf das Netzwerk der staatlichen Organisationen. Dieser Mittelbau der Administration habe in Wirklichkeit die Macht, die Geschicke des Landes zu lenken, nicht die demokratisch gewählten Politiker. Yarvin plädiert daher für eine Zerschlagung der bisherigen staatlichen Strukturen und dafür, diese stattdessen durch eine starke unabhängige „Staatsführung“, einen „Leader“ zu ersetzen. Damit präsentiert er eine Weltsicht, die für die NRx-Leute charakteristisch ist[4]: Die Führung der Staaten ist einseitig durch links-liberale Eliten besetzt, die den ideologischen Kurs vorgeben. Die staatlichen Zwischeninstanzen („Deep state“) spielen dabei eine entscheidende Rolle. Die linksliberale Ideologie wird aber von den meisten Menschen nicht geteilt. Durch eine Änderung der Ideologie ist es möglich, die Politik und die demokratische Kultur zu verändern (s. Foucaults Idee vom „herrschenden Diskurs“). Dem Zerfall des gemeinsamen Denkens in viele konkurrierende Diskurse müsse man mit der Schaffung einer neuen gemeinschaftlichen Ideologie begegnen. Diese kann nationalistisch, kapitalistisch oder traditionalistisch-religiös ausgeprägt sein, oder eben eine Kombination aus diesen dreien (!). Es gilt, die neuen Eliten gezielt zu fördern und die Starken an die Macht zu bringen (s. Ayn Rand). So können (wie in Ayn Rands „Atlas Shrugged“) bereits jetzt elitäre Netzwerke gebildet werden, die nach Zerfall der bisherigen Ordnung die Macht übernehmen können.
Woran erinnern Sie diese Ideen? Die Parallelen zu den rechten Vordenkern der Weimarer Republik sind leicht zu erkennen. Ähnlich wie in der Phase der Spätromantik, regt sich auf der „rechten“ Seite das Misstrauen gegen die Individualität und den damit einhergehenden Zerfall des gemeinschaftlichen Diskurses. Nach dem Ende der Aufklärung und ihrem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und Wahrheit, öffnet sich der Raum für die Ideologie als gemeinschaftsstiftende Größe. Die als „Eliten“ identifizierten Gruppen erregen Widerspruch, weil sie versuchen, mit den Techniken der „Pastoralmacht“ ihre Interessen durchzusetzen. Die Ablösung der „Eliten“ durch eine neue gemeinschaftlich getragene Ideologie unter einem den „Volkswillen“ verkörpernden „Führer“ bietet die Möglichkeit, eine neue, bessere Ordnung zu etablieren. Zu Yarvins wichtigen Bezugsquellen gehört fast unausweichlich der deutsche Staatsrechtler Carl Schmitt (1888-1985)[5]. Schmitt positionierte sich in der Weimarer Zeit klar gegen den häufig mühsamen und ergebnisschwachen demokratischen Parlamentarismus. Statt der „bunten“ Gesellschaft, die in politischen Fragen einen Ausgleich zwischen den Einzelinteressen suchen muss und sich nur mäandernd fortbewegen kann, schwebt Schmitt ein starker Staat vor, der einen klaren Ordnungsrahmen und scharfe Regeln setzt. Schmitt sympathisiert daher mit dem Faschismus. Der in der Romantik begründete Subjektivismus ist ihm ein Graus. Zugleich bleibt Schmitt der Romantik verhaftet. Karl-Heinz Ott schreibt:
„Bereits seine [Schmitts] frühe Schwärmerei für den mittelalterlichen Katholizismus lässt eine Nähe zur romantischen Tradition eines Novalis und Eichendorff erkennen. Schmitts politische Aversion gegen die Romantik bleibt zutiefst romantisch geprägt. Hinter seinem Gegeifer gegen das demokratische Gewusel und Gewese verbirgt sich eine antibürgerliche Sehnsucht nach Größerem und Höherem. Zum Großen und Grandiosen gehört eine machtvolle Ordnung, die einen erschauern lässt, voller Demut und Bewunderung.“
In seiner Schrift von 1922 „Römischer Katholizismus und politische Form“ diente Schmitt, der selbst Katholik war (dafür aber ein recht liederliches Privatleben führte), die katholische Kirche zu Illustration eines ideologisch fundierten Staatswesen mit klarer Führung.[6] Der Zusammenklang von politischer und wirtschaftlicher Führung mit religiösen Ideen im Sinne einer ganzheitlichen Ideologie ist sowohl bei Schmitt und einigen seiner Zeitgenossen auffällig, wie auch bei ihren neureaktionären amerikanischen Widergängern zu beobachten. Die katholische Kirche übt in ihrem Denken eine offensichtliche Faszination aus, der wir noch nachgehen müssen.
Bevor wir allerdings auf die kirchliche Seite schauen, möchte ich kurz zwei weitere Beispiele für den neuen „rechten“ Diskurs anführen. Sie sollen belegen, dass es sich bei diesem Denkansatz nicht bloß um ein randständiges Phänomen handelt, sondern, dass er bereits jetzt gesellschaftsprägende Kraft besitzt.
Beispiel 1: Peter Thiel
Der rechte Liberalismus beweist seine Anschlussfähigkeit auch auf dem Gebiet der Wirtschaft. Mit der Ernennung von Elon Musk, dem Gründer und Chef von Tesla, SpaceX, sowie Eigner des Nachrichtendienstes „X“ wurde eine Verbindung der neuen US-Regierung ins Silicon Valley sichtbar. Musks Aufgabe: Verkleinerung des Staatsapparates, mit anderen Worten: Beschneidung der staatlichen Zwischeninstanzen. Bei der großen medialen Aufmerksamkeit um Elon Musk, der Trump zuvor im Wahlkampf intensiv unterstützt hatte, gerät in Vergessenheit, dass bereits zu Beginn von Trumps erster Amtszeit ein sehr einflussreicher Mann aus dem Silicon Valley mit genau dieser Aufgabe betraut werden sollte: Peter Thiel.[7] Über Thiel, der zuweilen schon einmal als der „Dunkle Lord des Silicon Valley“ betitelt wurde, ist viel geschrieben und erzählt worden.[8] Der deutschstämmige Thiel gilt als Strippenzieher innerhalb der rechtsliberalen (libertären) Bewegung. Reich geworden ist er durch seine Investments in facebook und PayPal, dessen Miteigentümer Thiel lange Zeit war. Zu seinen Geschäftsfreunden zählt auch Elon Musk, dem er offenbar sein erstes Meeting mit Donald Trump im Jahr 2016 verschaffte. Thiel gehörte im Wahlkampf 2016 zu den ersten Unterstützern von Trump. In den vergangenen Jahren hat er zudem den Aufstieg von J.D. Vance zum Gouverneur und später Vizepräsidenten gefördert.
Politisch scheint Thiel den Staat in Analogie zu einem erfolgreichen Start-Up-Unternehmen zu denken. Seine Visionen zu einer guten Unternehmensführung hat er 2012 in Vorlesungen an der Universität Stanford skizziert.[9] Ein erfolgreiches Unternehmen, das wirklich Innovation hervorbringt, folgt dem Start-Up-Modell. Es zielt darauf, in seinem Segment mindestens Marktführer, am besten sogar Monopolist zu werden. Am Anfang steht eine kreative, visionäre Gestalt, im Grunde der Chefverkäufer einer Idee. Der „Gründer“ ist für das Gelingen des Unternehmens zentral. Er sammelt um sich eine Gruppe von Vertrauten, die nach Thiel „wie eine Sekte“ funktionieren muss, also in höchster Vertraulichkeit und Loyalität eine gemeinsame Mission verfolgt. Neben Startkapital braucht das neue Unternehmen vor allem zwei Dinge: möglichst viel Freiheit und einen langen Atem. Bei ersterem vertritt Thiel einen äußerst marktliberalen Ansatz. Ein Unternehmen braucht möglichst wenig staatliche Beschränkung, damit es sich frei entfalten kann. Es muss sich zudem davor hüten, selbst zu viel an internen Zwischeninstanzen aufzubauen. Unternehmen sind straff geführt. Sie beginnen zu stagnieren, sobald sie sich bürokratisches Fett anfressen, also Kontrollgruppen aufbauen, Unterabteilungen, Gewerkschaften, Teilhaber, die in die Unternehmensstruktur hereinreden, in das Unternehmen lassen. Gleichzeitig sieht Thiel wesentlich geringere Erfolgschancen, sobald sich Unternehmen dem herrschenden Zeitgeist zu stark unterwerfen, in der Hoffnung, so erfolgreicher zu sein. Der Zeitgeist kann sich schneller wandeln als man denkt und was früher modern war ist morgen nicht mehr gültig. Die Strategie des Unternehmens muss daher langfristig angelegt sein und darf nicht auf kurzfristige Gewinne schauen. Firmen wie Tesla oder Apple haben das gezeigt: Der Wert des Unternehmens stieg ständig, selbst, als die Erträge noch gering waren. Die sensationellen Börsenkurse lebten von dem Versprechen einer erfolgreichen Zukunft, weil das angestrebte Ziel attraktiv war.
Auf den Staat angewendet, würde auch dieser in der Unternehmenslogik von einer starken Führungsfigur mit einer verschworenen Corona an Mitspielern leben, die langfristige Ziele verfolgt. Curtis Yarvin, der sich als Vordenker der Neoreaktionären versteht, hat genau aus diesem Grund die parlamentarische Demokratie in Zweifel gezogen. Was ist besser für ein Land: Eine Politik, die sich ständig den Meinungen und damit den Wahlergebnissen unterwerfen muss oder eine „weise“ autokratische Herrschaft, die die Möglichkeit hat, langfristige politische Ziele zu entwickeln und umzusetzen, ohne zwischenzeitlich dabei auf die Zustimmung des Volkes angewiesen zu sein? Der Abbau von Zwischeninstanzen ist dabei für Thiel wie auch Yarvin von großer Wichtigkeit . Nur ein schlanker Staat mit wenigen Regeln ist innovationsfähig.
Peter Thiel denkt offensichtlich sehr langfristig und dies nicht nur im unternehmerischen Bereich. Er beschäftigt sich mit der Gesellschaft. In seinem Podcast „Die Peter Thiel-Story“ berichtet der Journalist Fritz Espenlaub von Thiels Beschäftigung mit Carl Schmitt und auch mit dem Christentum. Thiel interessiert sich für Theologie und die katholische Tradition. Derzeit, so Espenlaub, beschäftige sich Thiel mit einer besonderen theologischen Frage. Thiel denkt über den Antichrist nach, also jene apokalyptische Gestalt, die als Verwirrer auftritt und die Menschen vor dem Untergang der Welt vom wahren Glauben abbringen möchte. Thiel identifiziert den Antichrist (ganz nach dem Vorbild Ayn Rands) mit einer alles regulierenden Weltregierung, die unter dem Anschein, Frieden und Wohlstand zu bringen, die Welt ihren Regeln unterwirft. In foucaultscher Diktion könnte man sagen: Eine übermächtige Diskursmacht. In einem Interview sagt Thiel:
„Aber ich denke immer, wenn wir schon über existenzielle Risiken sprechen, sollten wir vielleicht auch über das Risiko einer anderen Art von negativer Singularität sprechen, die ich als totalitären Eine-Welt-Staat bezeichnen würde. Denn ich würde sagen, die politische Standardlösung für all diese existenziellen Risiken ist eine Weltregierung. Was tun wir gegen Atomwaffen? Wir haben die Vereinten Nationen mit echter Macht, die sie kontrollieren, und sie werden von einer internationalen politischen Ordnung kontrolliert. Und dann wäre da noch die Frage: Was tun wir gegen künstliche Intelligenz? Und wir brauchen eine globale Computer-Governance. Wir brauchen eine Weltregierung, die alle Computer kontrolliert, jeden einzelnen Tastendruck protokolliert und sicherstellt, dass niemand eine gefährliche künstliche Intelligenz programmiert. Und ich frage mich, ob das nicht ein Weg vom Regen in die Traufe ist. […] Es gibt den Eine-Welt-Staat des Antichristen, oder wir steuern schlafwandelnd auf Armageddon zu. „Eine Welt oder keine“, „Antichrist oder Armageddon“ sind auf einer Ebene die gleiche Frage. Ich habe viele Gedanken zu diesem Thema, aber eine Frage ist – und das war ein Handlungsloch in all diesen Antichrist-Büchern – wie erobert der Antichrist die Welt? Er hält diese dämonischen, hypnotischen Reden, und die Leute fallen einfach darauf herein.“[10]
Um den Antichrist aufzuhalten, bedarf es eines Gegenspielers, der in Anlehung an den 2. Thessalonicherbrief „der Aufhalter“ (griechisch „Katechon“) genannt werden kann. Carl Schmitt hatte zu diesem Begriff die Theorie entwickelt, dass der christlich fundierte Staat ein solcher „Aufhalter“ sein könnte – damals gegen die von Schmitt gesehene Gefahr eines Weltkommunismus. Für Peter Thiel könnten die USA eine solche Funktion einnehmen, indem sie bislang gepflegte internationale Bündnisse in Frage stellen, einen eigenen Weg wählen, und eine herrschende Ideologie (hier wohl den „woken“ Linksliberalismus) bekämpfen. Hierfür scheint es ihm sinnvoll, eine enge Bindung mit den christlichen Gemeinschaften und dem christlichen Glauben zu suchen. Besonders die evangelikalen Glaubensgemeinschaften und der traditionelle Katholizismus sind in der Vergangenheit als Anwälte einer anti-woken Moral auffällig geworden.
Peter Thiel hat maßgeblich zum Aufstieg des jetzigen Vizepräsidenten J.D. Vance beigetragen. Durch seine Spenden sind dem aus einfachen Verhältnissen stammenden Vance möglicherweise überhaupt erst Chancen auf die Kandidatur für höhere politische Ämter gegeben worden. Der Journalist Fritz Espenlaub vermutet daher, dass Vance für Thiel der ideale Kandidat für eine künftige Herrschaft in den USA sein könnte. Vance ist ein konservativer Katholik und ist in traditionalistischen Kreisen wegen seines expliziten Katholizismus so etwas wie ein Popstar geworden. Gemeinsam mit Thiel hat Vance übrigens in eine App investiert, welche die Formung neuer Katholiken in den Blick nimmt. Die App heißt „Hallow“, hat 23 Millionen Downloads weltweit und wird uns später noch beschäftigen.
Beispiel 2: Giorgia Meloni
Am 22. Oktober 2022 wurde Italiens erste weibliche Ministerpräsidentin vereidigt. Es ist die 1977 geborene Römerin Giorgia Meloni. Nun erlebt Italien häufig Regierungswechsel, weil die wackeligen Koalitionen aus vielen kleineren Parteien latent instabil sind. Dieser Regierungswechsel war allerdings etwas Besonderes, für viele auch Empörendes. Giorgia Meloni ist Mitgründerin und Vorsitzende einer ehemals kleinen ultrarechten Splitterpartei, der „Fratelli d’Italia“ („Brüder Italiens“ – der Name zitiert die Anfangsworte der italienischen Nationalhymne). Meloni, die sich offen als „rechts“ bezeichnet, ist von ihrer Jugend an in politischen Aktionsgruppen großgeworden und hat als damals jüngste Abgeordnete ihre Jugendorganisation im römischen Stadtparlament vertreten. Sie ist Mitbegründer des römischen Atrejú-Festivals, einer Art freidenkerischen Volksfestes, dessen Name schon sehr sprechend ist: Atrejú ist der Name des Jungen in Michael Endes „Unendlicher Geschichte“, der als Verbündeter des Romanheldens den Kampf gegen das um sich greifende „Nichts“ aufnimmt. Später wurde Meloni Abgeordnete im italienischen Parlament und im Europaparlament. Ihren Werdegang und ihre politischen Vorstellungen beschrieb sie 2021 in einer Autobiografie.[11]
Das politische Programm Melonis ähnelt dem rechtspopulistischer Parteien in ganz Europa. Meloni erklärt sich als ausgewiesene Europäerin, wendet sich aber gegen die Regulierungen durch die EU. Ihr Land Italien sieht sie im Würgegriff einer französisch-deutschen Dominanz der EU-Politik. Sie ist für Migration, aber gegen illegale Migranten und möchte die Migrationsfrage durch eine Stärkung der Herkunftsstaaten der Migranten bekämpfen. Dies ist ein geradezu antikolonialistisches Programm. Meloni sieht vor allem Afrika unter dem schädlichen Einfluss korrupter Regierungen und ihrer Abhängigkeit von Großmächten wie China, USA oder Frankreich. Über die Gräueltaten der Mussolinizeit in den italienischen Kolonien schreibt sie in ihrem Buch vorsichtshalber kein Wort. Das italienische Volk soll durch eine gezielte Förderung der Familie wieder wachsen können. Und natürlich ist dort der Kulturkampf. Italien sei Opfer von linkselitären, abgehobenen Politikern geworden, die sich nur zum Schein um Gerechtigkeitsfragen kümmern. Während sie die Regenbogenflagge hissen, werden die wahren Bedürfnisse der italienischen Bevölkerung nicht gesehen. Meloni möchte Italien wieder zu einem wirtschaftlich starken und geeinten Land machen, etwa durch einen besseren Finanzausgleich zwischen Nord und Süd, die Bekämpfung der Mafia, die Förderung einer einheimischen Wirtschaft, die sich aus ihren Verflechtungen mit internationalen Großkonzernen wieder lösen soll. Dazu gehört auch die Stärkung des italienischen Nationalstolzes.
In diesem Zusammenhang kommt Meloni ausführlicher auf das Christentum zu sprechen. Meloni bekennt sich als Verehrerin von Johannes Paul II., den sie als „größten Staatsmann des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet und bei dessen Tod sie geweint habe „wie beim Tod eines Vaters“. Auch für seinen Nachfolger Benedikt XVI. habe sie große Sympathien. Bei Papst Franziskus sei sie sich nicht ganz so sicher. Meloni erzählt von ihrem Heimatpfarrer, der ein charismatischer „Seelenfänger“ gewesen sei und so, jenseits aller kirchlichen Großstrukturen Unglaubliches geleistet habe. Im Kern allerdings ist für Meloni das Christentum weniger eine persönliche Bekenntnisreligion als ein kultureller Träger Europas. Sie schreibt:
„Für mich ist das vereinte Europa ein Ideal, das von weit her kommt und seine tiefsten Wurzeln an drei wunderschönen Orten hat: Athen, Rom und Jerusalem, wo alles begann. Das Christentum hat ihm zweifellos eine kulturelle Einheit verliehen, und der unersetzliche Wert christlicher Wurzeln hätte […] auch von Brüssel anerkannt werden müssen.“ [12]
Ein solches „identitätsstiftendes Erbe“ müsse verteidigt und gepflegt werden. Europa soll eine Heimat sein, statt eines bürokratischen Gebildes, das durch Wirtschafts- und Gesetzesfragen zusammengehalten wird. Meloni sieht in den christlichen Kirchgebäuden sichtbare Zeichen dieser Prägung und beschreibt ihren Kummer beim Brand der Pariser Kathedrale „Notre Dame“, die sie als ein identitätsstiftendes Gebäude Europas ansieht. Zu dem christlichen Erbe gehört für Meloni auch ein bestimmter moralischer Kodex. Die Aufnahmekultur von Migranten etwa sei dem christlichen Erbe verpflichtet, dürfe aber nicht zur Auflösung des christlichen Erbes beitragen (etwa durch einen radikalisierten Islam). Die weltweite Verfolgung von Christen werde in Europa meist totgeschwiegen. Meloni ist für strenge Abtreibungsgesetze und für eine Hochachtung der klassischen Familie. Das konservative Denken, das sich aus dem Christentum speist, wehrt sich gegen Diskriminierung, da „alle Menschen Kinder des gleichen Gottes sind und von ihm gleichermaßen geliebt werden.“[13] Der Fortschritt besteht Melonis Ansicht nach nicht in der Umsetzung einer linken Gesellschaftstheorie, welche die ethischen Grenzen zugunsten eines bestimmten Freiheitsideals aufweiche. Leihmutterschaft, Gender-Theorie und Abtreibung in der späten Schwangerschaft bezeichnet sie als „Barbarei“[14] Der Fortschritt liege eher in einem Neuaufbau Italiens aus seinen traditionellen Wurzeln, zu denen eben auch das (katholische) Christentum zählt. „Die Realität ist das Leben von heute, aber auch das vergangene: die Tradition, die Erinnerung. Diese ‚tiefen Wurzeln, die der Frost nicht erreicht‘, um es sinngemäß mit Tolkien zu sagen, sind die Basis jeden Werdens und Wachsens.“[15]
[1] Literatur: Was liest eigentlich Donald Trump? | SÜDKURIER
[2] Nils Wegner, Neoreaktion und Dunkle Aufklärung, Dresden 2024, 22-29, das im Nachgang angefügte Zitat Ebd, 27.
[3] Das ganze Interview: https://www.youtube.com/watch?v=RRzfsbIkSoo&t=3s
[4] S. für das Folgende, Wegner, 43-69.
[5] S. für das Folgende: Karl-Heinz Ott, Verfluchte Neuzeit, München 2022, 175-183, das Zitat unten: 179f.
[6] S. hierzu, Reinhard Mehring, Carl Schmitt, München 2009, 147ff. Zu Schmitt zur Weimarer Zeit ders.
[7] Deutscher Milliardär berät Trump – DW – 15.11.2016
[8] Interessierten sei besonders der Deutschlandfunk-Podcast „Die Peter Thiel Story“ empfohlen, auf die ich mich für diesen Abschnitt u.a. beziehe: Die Peter Thiel Story
[9] Peter Thiel, Zero to None – Wie Innovation unsere Gesellschaft rettet, Frankfurt 2014. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf dieses Buch.
[10] https://www.nytimes.com/2025/06/26/opinion/peter-thiel-antichrist-ross-douthat.html. Der Abschnitt über den Antichrist findet sich im letzten Drittel des Interviews.
[11] Giorgia Meloni, Ich bin Giorgia, deutsche Übersetzung München 2025. In den folgenden Ausführungen beziehe ich mich auf dieses Werk.
[12] Meloni, 261.
[13] Meloni, 295.
[14] Meloni, 158.
[15] Meloni, 238.
Bei den im Beitrag vorgestellten oder diskutierten Gesellschaftsmodellen (und auch bei allen anderen) ist meine erste Frage:
Welche Rechte und Freiheiten gesteht das Gesellschaftsmodell den Bürgern zu, oder garantiert (gewährleistet) es ihnen sogar ?
Werden abweichende Meinungen von dem, was das Modell formuliert, wenigstens geduldet, oder gibt es Gruppenzwänge ?
Dabei ziehe ich gern einen Vergleich mit dem Grundrechtekatalog (den Artikeln 1 bis 19) des „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland“ heran, der uns Bürgern eine Reihe von Rechten und Freiheiten nicht nur zugesteht, sondern uns dieses Rechte und Freiheiten verbindlich garantiert.
Kleinigkeit am Rande am Beginn von „Beispiel 2“:
«Am 22. Oktober 2022 wurde Italiens erste weibliche Ministerpräsidentin …»
Frage: Ist auch eine männliche Ministerpräsidentin denkbar ?
Eckhardt Kiwitt, Freising
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Lieber Herr Kiwitt,
Ich glaube, man kann den Umgang mit der Meinungsfreiheit in den aktuellen Entwicklungen in den USA ganz gut anschauen. Formal bleiben alle Rechte gewahrt, aber der Meinungskorridor wird etwa durch Behinderung der Pressearbeit von unliebsamen Medien behindert. Man versucht, einen neuen Mainstream zu schaffen. Dabei helfen Einschüchterung, Gerichtsprozesse oder Falschinformationen.
Die weibliche Ministerpräsidentin ist natürlich eine unnötige Doppelung. Ich konnte allerdings schlecht „weiblicher Ministerpräsident“ schreiben…
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Danke für den Beitrag. Die Bedeutung der von Ihnen beschriebenen Entwicklungen für die Rückkehr des Katholizismus ist mir jedoch nicht klar geworden.
In welchem Zusammenhang stehen Yarvin, Thiel und Schmitt Ihrer Meinung nach mit der Rückkehr des Katholizimus? Wie beurteilen Sie die These zum Katechon (und den Bezug zur anti-woke Bewegung)? Was wäre Ihrer Meinung nach erforderlich, um eine Rückkehr zum Katholizismus zu befördern:„woke“: Öffnung der katholischen Kirche und Unterstützung der Diversität, Kompromissbereitschaft im Diskurs mit anderen Religionen/Konfessionen, Einforderung von Umweltschutz, Sozialstaat und Demokratie oder „anti-woke“: Besinnung auf traditionelle Werte und klare Positionierung / Abgrenzung ggü. der woke Bewegung? Sehen Sie vielleicht sogar einen Zusammenhang zwischen Antichrist und Mammon? Können wir Ihrer Meinung nach aus den Beschreibungen von Babylon, Sodom und Gomorrha und den Prophezeiungen zur Apokalypse Rückschlüsse darauf ziehen, was ein Katechon tun und sagen sollte, um den Antichrist aufzuhalten?
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