Wiederkehr des Katholizismus? – Die Kirche im ideogischen Spannungsfeld der Zeit, Teil 1

Etwas ist in Bewegung gekommen. Mein katholisches Lebensgefühl hat sich in den letzten Monaten ein wenig verändert. Lange Zeit war ich mit Blick auf die Entwicklung der Kirche eher depressiv gestimmt – Missbrauchsskandale, Priestermangel, Massenaustritte, Strukturveränderungen. Doch innerhalb des letzten halben Jahres bin ich auf einige Phänomene gestoßen, die mich sehr interessiert haben. Dazu gehörten vor allem die Nachrichten über ein „katholisches“ Revival in einigen Ländern Europas.[1] Hinzu kam die äußerst positive Stimmung rund um die Wahl des neuen Papstes. Ich habe einige interessante und ermutigende Begegnungen mit Menschen gemacht, die sich für den Glauben interessieren. Die katholische Kirche ist lange nicht mehr so „out“, wie ich es lange Zeit gedacht habe. Im Gegenteil: Es gibt ein neues Interesse und auch neue Personen, die positiv auf die Kirche schauen – auch aus der jungen Generation.

Zugleich war das Jahr auch geprägt von politischen Auseinandersetzungen. Die Bundestagswahl hat eine rechts-konservative Mehrheit ergeben und zugleich ein Erstarken dezidiert linker Parteien. Das politische Spannungsfeld ist größer geworden. Die katholischen Bischöfe hatten sich im Vorfeld der Wahl klar gegen die AfD positioniert, einer politischen Kraft, der sich auch einige unserer Gemeindemitglieder verbunden fühlen.[2] Etwas früher war die Wahl Donald Trumps und mit ihr das Auftreten eines neuen Vizepräsidenten, der seinen ausdrücklichen Katholizismus der Weltöffentlichkeit nicht vorenthält. Seine berühmte und umstrittene Ansprache bei der Münchner Sicherheitskonferenz brachte unter anderem eine gewaltige Hochschätzung für Johannes Paul II. zum Ausdruck. Was in Amerika politisch und gesellschaftliche geschah, war aus meiner Sicht nicht ein singuläres Phänomen „Trump“, sondern etwas viel Fundamentaleres.

Ich habe mich daher ein wenig auf die Suche gemacht, diese unterschiedlichen Phänomene zu verstehen und zu deuten. In welcher Situation befinden wir uns gerade? Welche Zukunft kommt auf die katholische Kirche jenseits der absehbaren Veränderung der etablierten Strukturen zu? Herausgekommen ist der folgende Text, den ich als „Sommeressay“ in mehreren Teilen zur Verfügung stellen möchte. Es gibt meine derzeitige und subjektive Sicht auf die Dinge wieder und ist so eine Einladung zum Mitdenken und Diskutieren.

Der Ausgangspunkt

Im Mai dieses Jahres traf sich unser Weihekurs. Von den möglichen zehn Mitbrüdern waren acht gekommen, aus unterschiedlichen Bistümern und in unterschiedlichen Funktionen. Zum festen Programm unserer Treffen gehört es, dass jeder von sich und seiner Arbeit erzählt. Unweigerlich entsteht daraus dann auch ein Gespräch über unsere Wahrnehmungen und Analysen zur derzeitigen Situation der katholischen Kirche, die wir in unterschiedlichen Facetten und auf unterschiedlichen Ebenen wahrnehmen. Dieses Jahr hatte sich etwas verändert. Die vergangenen Treffen waren geprägt von einem Gefühl des Niedergangs. Wir empfanden die kirchliche Situation eher als bedrückend. Wir diskutierten die Initiative des „Synodalen Wegs“, der von Bischöfen und den Laienvertretungen als Ausweg aus einer kirchlichen Krise angestrebt wurde, die im Zuge der Missbrauchsaufarbeitung entstanden war. Wir beobachteten die Abbrüche im kirchlichen Leben vor Ort und fragten nach unserer Rolle. Dieses Jahr war es anders. Alle in unserer Runde sprachen von Aufbrüchen. Nicht, dass wir diese Aufbrüche in Zahlen belegen könnten. Es war vielleicht nicht mehr als ein Gefühl. Dieses Gefühl aber war stark: „Es kommt gerade etwas in Bewegung“. In unserer Runde sammelten wir Hinweise: Wir erleben ein neues Interesse am Glauben und an der Katholischen Kirche. Gleich mehrere berichteten von der gestiegenen Zahl junger Leute, die an den Feiertagen zu den Gottesdiensten gekommen waren. Es gibt mehr Nachfragen nach Glaubenskursen, Erwachsenentaufen oder Konversionen. Geistliche Initiativen werden eher stärker als schwächer. Dies alles geschieht wahrscheinlich in einem statistisch kleinen Bereich. Die Nachrichten bestätigen den Trend nicht. Wir haben von den gewaltigen Austrittszahlen gehört und vom historischen Tiefstand bei den Priesterweihen in Deutschland. Und dann sind dort die anderen Meldungen. Gleich mehrere europäische Länder, darunter Frankreich, Großbritannien und die Schweiz meldeten dieses Jahr wiederholt steigende Zahlen bei Taufen und Konversionen. Es schien uns lange unmöglich, dass die katholische Kirche für junge Leute als Zukunftsoption noch eine Rolle spielen würde. Und nun das: Die katholische Kirche wächst in einigen Teilen Europas wieder. Ist das ein Trend oder ein Strohfeuer? Wir wissen es noch nicht.

Ich habe versucht, dem unbestimmten Gefühl der Veränderung und des Aufbruchs in den vergangenen Wochen nachzugehen. Meine Vermutung war, dass diese Veränderung Teil eines größeren Prozesses ist. Wie nehme ich derzeit unsere Welt wahr, habe ich mich gefragt. Meine erste Antwort darauf: sehr unbestimmt. Es sieht so aus, als würde sich gesellschaftlich ein veränderter „common sense“ ausbilden, eine Verschiebung der Diskurse geschehen. Das „Weltempfinden“ scheint sich bei vielen zu verändern. Solche Art von „Ideologischer Drift“ kommt immer wieder vor. Es kann sein, dass wir uns in einer solchen Phase befinden.

Leo XIV.

Beginnen möchte ich mit der Wahl des neuen Papstes. Im Vergleich zur Wahl seines Vorgängers Franziskus im Jahr 2013 fand das diesjährige Konklave unter veränderten Bedingungen statt. So uralt die Riten der Papstwahl sind, so modern war ihre mediale Begleitung. Das Konklave war ein Social-Media-Ereignis. Der Algorithmus, wenig überraschend davon überzeugt, dass ich an kirchlichen Themen ein gewisses Interesse habe, überflutete meine Timeline mit unzähligen Kleinvideos. Jeder Schritt in das Konklave wurde gefilmt und kommentiert. Fangruppen aus der ganzen Welt bastelten aus altem Videomaterial Werbespots für ihren Papstkandidaten. Die Wahl des Papstes und jeder seiner öffentlichen Auftritte seither wird aus allen Perspektiven gefilmt und ins Netz gestellt. Katholische Medien, wie der amerikanische Sender EWTN berichteten auf ihrem Youtubekanal 24 Stunden am Tag live über das Konklave. Dagegen nahm sich die trotzdem ebenfalls üppige Berichterstattung der Fernsehsender vergleichsweise bescheiden aus.

Es ist diese beherrschende digitale Welt, die Leo XIV. in einer seiner ersten Ansprachen thematisierte. Er antwortete auf die Frage nach der Wahl seines Papstnamens und sagte, dass er sich auf Leo XIII. (1878-1903) beziehe. So, wie zu dessen Amtszeit die industrielle Revolution eine entscheidende gesellschaftliche Veränderung gebracht habe, auf welche die Kirche reagieren musste, so sehe er uns angesichts der digitalen Revolution und den Möglichkeiten der KI (Künstliche Intelligenz) an einem ähnlichen geschichtlichen Punkt.

Es ging und geht dabei nicht bloß um technische Veränderungen. Die Zeit des dreizehnten Leo befand sich in einem fundamentalen Wandel. Kurz zuvor waren in Europa eine Reihe moderner Nationalstaaten entstanden. Die ersten Erfahrungen mit republikanischen Elementen wurden in neue häufig monarchische Staatsysteme integriert. Industrialisierung und Kolonialismus prägten eine erste Phase des Turbokapitalismus und des globalisierten Handels. Die europäische Bevölkerung wuchs rasant – und lebte vor allem in den anschwellenden urbanen Landschaften zu großen Teilen unter prekären Verhältnissen. Mit dem Kommunismus etablierte sich eine Denkrichtung, die auf unter dem Vorzeichen der Teilhabe aller am Wohlstand revolutionäre Ideen verbreitete und als Konkurrenz etablierter Gesellschaftsträger und Ordnungen, u.a. der katholischen Kirche auftrat. Zugleich befanden sich die Staaten Europas im Kampf um die politische und wirtschaftliche Vormachtstellung, den sie bald in einem gewaltigen Krieg austragen würden. Die USA etablierten sich als Großmacht.

Die katholische Kirche wurde von dieser Entwicklung fast überrollt. Noch wenige Jahre zuvor, im I. Vatikanischen Konzil, hatte sie sich als ideologische Gegenmacht zur nationalstaatlichen Entwicklung aufgebaut und verfolgte mit Skepsis die Verbreitung demokratischen Gedankenguts. Dann allerdings gingen ihr Gläubige verloren. Die Arbeiterschaft wandte sich neuen Ideen zu. Das Ziel Leos und seiner Nachfolger war es, dieser Schicht eine neue Beheimatung in der Kirche zu geben. Dies führte unweigerlich zu neuen Überlegungen für eine gerechtere Wirtschaftsordnung und eine sozialere Gesellschaft, die später unter dem Begriff „Katholische Soziallehre“ entwickelt und weitergeführt wurden.

Wenn Leo XIV. die digitale Welt als aktuelle Herausforderung ausgemacht hat, ist damit ebenfalls mehr als eine „Technik“ angesprochen. Die KI, als nächster flächendeckender Entwicklungsschritt, wird meist unter ethischen Gesichtspunkten besprochen: Wie wird sie die Arbeitswelt verändern, welche intellektuellen Aufgaben werden Computer in Zukunft übernehmen, wie können wir Wirklichkeit und „Fake“ in Zukunft unterschieden? Der digitale Fortschritt prägt schon jetzt die Arbeitswelt, besonders auch die Industrie, in erheblichem Maß. Die Medienlandschaft verändert sich extrem. Neben die großen etablierten Informationsanbieter sind längst unzählige Klein- und Kleinstmedien getreten, die zu einer vielfältigen, allerdings auch anfragbaren Berichterstattung und Meinungsbildung beitragen. Der ununterbrochene Medienstrom hat massive Auswirkungen auf die jungen Generationen und verschiebt die Grenzen zwischen einem digitalen und einem „realen“ Leben. Das Internet ist für viele keine Freizeitbeschäftigung mehr, sondern längst ein Lebensraum.

Politisch etabliert sich damit eine neue Macht. Die Nationalstaaten als lange Zeit unbestrittene Inhaber gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Regelhüter geben derzeit Einfluss an privatwirtschaftliche Unternehmen ab, die Träger der digitalen Welt. Die Regulierung der marktbeherrschenden Tech-Konzerne stellt eine immer schwierigere Aufgabe dar. Mit dem Bitcoin und seinen Konkurrenzprodukten ist zudem ein wirtschaftliches Alternativangebot der nicht staatlich regulierten Finanzpolitik geschaffen worden. Dabei sind die Tech-Konzerne mehr als gewinnorientierte Unternehmen. Es zeigt sich, dass auch bei ihnen (zumindest in Teilen) ein politischer und gesellschaftlicher Gestaltungswille vorhanden ist. Ihr Systeme sind nicht nur dazu geeignet, um die Wirtschaft und den Warenverkehr zu beeinflussen, sondern auch, den gesellschaftlichen Diskurs zu prägen.

Leo XIV. steht vor der Herausforderung, den „alten Tanker“ der Katholischen Kirche in diesem Strudel des gesellschaftlichen Wandels zu steuern. Sein Vorgänger Franziskus hatte dabei vor allem die Fragen der globalen Gerechtigkeit und der ökologischen Verantwortung in den Mittelpunkt seines Pontifikats gestellt. Die digitale Welt erschien ihm, so mein Eindruck, eher als Symptom einer kapitalistischen Weltordnung, die Menschen entwurzelt und ihres natürlichen kulturellen Lebensraums beraubt. Franziskus schlug ein „Zurück“ zum „realen“ Leben vor, besonders zum gemeinschaftlichen, interpersonellen Austausch. Der neue Papst, selbst vormals Nutzer sozialer Medien, wird einen anderen Blick auf die digitale Wirklichkeit werfen. Die Interaktion der Kirche mit der globalen Gesellschaft wird neue Akzente erfahren müssen.


[1] Frankreichs Kirche verzeichnet neuen Rekord bei Erwachsenentaufen – katholisch.de; Wiederaufleben des katholischen Glaubens in Großbritannien und Frankreich

[2] Abschlusspressekonferenz der Frühjahrs-Vollversammlung 2025 der Deutschen Bischofskonferenz: Deutsche Bischofskonferenz

2 Kommentare zu „Wiederkehr des Katholizismus? – Die Kirche im ideogischen Spannungsfeld der Zeit, Teil 1

  1. Hallo Sensus Fidei,

    danke für den optimistischen Ausblick.

    Ich stimme Ihnen zu: Es hat sich etwas geändert seit der Papstwahl. Darf ich trotzdem eine Gegenposition einnehmen?

    In einem Satz würde ich es so formulieren: Aus der klaren Wegweisung und Einforderung christlicher Werte, die Papst Franziskus ausgemacht hat, ist mit Leo eine Überlebensstrategie für die katholische Kirche geworden.

    Während die Welt Machtstreben, Egoismus, Geldgier, Brutalität und Beschleunigung zelebriert, beschäftigt sich die katholische Kirche mit Modernisierung und Werbestrategie.

    Mich hat die Klarheit der Worte, die Authentizität und die Nähe zu Jesus an Franziskus fasziniert.

    Ob Modernisierung und Anpassung oder authentische Verkörperung christlicher Werte im Fokus eines Pontifikats stehen sollten, ist innerhalb der katholischen Kirche (besonders in Europa) umstritten.

    Aus meiner Sicht ist Jesu Botschaft jedoch eindeutig: Frieden (=Abrüstung, Feindesliebe), Bewahrung der Schöpfung (=Klimaschutz, Artenschutz etc.), Gerechtigkeit (=Menschenrechte), Barmherzigkeit.

    Die Botschaft nicht nur zu verkünden und einzufordern, sondern auch zu leben, waren Merkmale von Papst Franziskus.

    Es braucht Mut und klare Worte, um sich auch gegen Widerstand für christliche Werte einzusetzen. Es braucht Demut und Bescheidenheit, um den Versuchungen der Welt zu widerstehen. Es braucht Liebe, Barmherzigkeit und Offenheit (und nicht weltliche Erfolgsstrategien), um den Weg in Gottes Reich klar zu sehen und eine Kirche auf dem Weg dorthin zu führen.

    Vielleicht täusche ich mich, aber ich beurteile die Entwicklung seit der Papstwahl anders als Sie. Zahlen sind da für mich vielleicht weniger relevant.

    Haben Sie den Mut einen kritischen Kommentar zu veröffentlichen?

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