Der Engländer Tom Holland ist in seiner Heimat einer der bekanntesten Wissenschaftler. Er beschäftigt sich als Historiker vor allem mit der Geschichte des Römischen Reiches. Sein Podcast „The rest is history“ gilt als einer der erfolgreichsten Wissens-Podcasts der Welt.
Holland beschrieb, wie er, in anglikanischer Tradition aufgewachsen, mit dem Glauben brach, als er in einer Kinderbibel eine Darstellung von Adam und Eva im Paradies sah und neben ihnen einen Dinosaurier.[1] Er war empört. Kein Mensch hat jemals einen Dinosaurier gesehen. Eine derart unwissenschaftliche Darstellung, die wahrscheinlich als Illustration einfach „nett“ gemeint war, zog für ihn den ganzen Glauben in Zweifel. Holland wandte sich in seinem Forscherleben einem rein wissenschaftlichen Ansatz zu. Die Religion spielte und spielt für ihn lebenspraktisch keine Rolle. Allerdings hat er in den letzten Jahren eine gewisse Wende vollzogen. Vor einigen Jahren hat Holland ein dickes Buch geschrieben, in dem er die Geschichte des Westens, also unseres Kulturraums anhand ausgewählter Episoden erzählen wollte. In der Recherche wurde ihm bewusst, dass diese westliche Kultur bis ins Mark vom Christentum geprägt wurde. Eine Geschichte des Westens ist zugleich auch immer eine Ideengeschichte des Christentums, ob einem das in allen Konsequenzen gefällt oder nicht.
In einem Kapitel des Buches berichtet er aus der Zeit der Spätantike. Er beschreibt den heidnischen Kult der Kybele und den mit ihm verbundenen Riten. Im 4. Jahrhundert erreichte die Priester eine eigentümliche Klage, die sie nicht verstanden. Man beschwerte sich, warum am Heiligtum der Kybele nichts für die Armen getan werde. Das erregte Erstaunen. Die Armen, die Bettler, das einfache Volk, sie waren für die Kybelepriester und ihre Anhänger keine besondere Beachtung wert. Wer arm war, musste selbst klarkommen.
Das antike Heiligtum stand im krassen Gegensatz zu den damals entstehenden christlichen Klöstern und Kirchen. Die bedeutenden Bischöfe der Zeit schienen sich in der Fürsorge für die Armen und Benachteiligten zu überbieten. Kirchen waren häufig zugleich Sozialstationen. Die Bischöfe sammelten bei den Wohlhabenden Geld, um die Aufgaben der Fürsorge erfüllen zu können. Die großen Helden dieser Zeit der ausgehenden Antike waren Personen wie Martin von Tours oder Paulinus von Nola, die ihren Stand und ihr Vermögen aufgaben, um als Arme für die Armen zu leben und bedeutende Werke der Barmherzigkeit gründeten.
Das kleine geschichtliche Beispiel illustriert einen Wandel hin zu etwas, das uns heute selbstverständlich ist. Dass die Fürsorge für die Armen und Randständigen zu den Aufgaben einer Gesellschaft gehört, war einmal ein durchaus neuer Gedanke, der sich direkt aus der Botschaft des Evangeliums ableitete. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter gehört zu den Urtexten, in denen Jesus diese neue Ethik als gottgefällig beschreibt. Natürlich hat es seine Wurzeln im Judentum, wo sich Gott als der Gott der Schwachen offenbart hat. Die Kranken, die Kinder, die Witwen stehen unter seinem besonderen Schutz.
Jesus spitzt dieses Gebot der Nächstliebe im Gleichnis allerdings zu. Es sind hier nicht die Mitglieder des Volkes Israel, die dem Verletzten helfen, sondern ein Samariter. Samariter und Juden waren sich gegenseitig verhasst. Das Schicksal eines Juden war einem Samariter eigentlich egal (und umgekehrt).
Jetzt handelt der Samariter im Gleichnis allerdings spontan im Sinn der Nächstenliebe. Er erfüllt damit (und das ist Provokation des Gleichnisses) allerdings das Gesetz Gottes viel besser, als die vorher genannten Repräsentanten des jüdischen Volkes. Die christliche Schlussfolgerung ist: Du sollst dem Notleidenden helfen, selbst, wenn es dein schlimmster Feind wäre. Jeder Mensch ist es wert, dass ihm geholfen wird.
Vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen, die wir in dieser Woche in der Politik beobachten konnten, spielt diese Grundregel eine wichtige Rolle. Der Grundsatz der Hilfe und Fürsorge für die Schwachen ist die Keimzelle dessen, was später Menschenwürde genannt wird. Keiner ist zu gering, als dass ihm nicht geholfen werden müsste. Wir sortieren nicht, wer Menschenwürde besitzt und wer nicht. Im Bundestag wurde darüber gestritten, ob man eine Kandidatin für einen der Posten beim höchsten Gericht in Deutschland benennen kann, die diesen Grundsatz schon einmal in Frage gestellt haben soll. Hat ein ungeborenes Kind Menschenwürde? Es gibt juristische und philosophische Argumente, um so eine These zu begründen. Die Frage ist allerdings, ob man sich diesen Argumenten anschließen sollte. Christlich gesehen ist das nicht möglich. Gesellschaftlich sollten wir es auch nicht tun. Wenn wir beginnen, die Menschenwürde an einer Stelle in Frage zu stellen, dann ist das argumentativ auch an anderen Stellen möglich. Wer hat Menschenwürde? Das ungeborene Kind? Der Asylbewerber, der in Deutschland ist? Ein alter oder behinderter Mensch, der ohne Hilfe nicht leben kann? Es ist die Stärke unserer Kultur, ihnen allen diese Würde zuzusprechen, verbunden mit der Verpflichtung, diesen Menschen dann auch zu helfen, eben weil sie Menschen sind. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter spricht in dieser Weise auch in unsere Zeit. Wir sind als Gesellschaft gut beraten, dieses Erbe zu bewahren.
Beitragsbild: Haus der Vestalinnen auf dem Forum Romanum (Rom), im Hintergrund die Kirche Sta. Francesca Romana
[1] Tom Holland, Herrschaft – Die Entstehung des Westens, Stuttgart 2021, 25. Für das folgende beziehe ich mich ebenfalls auf ein Kapitel des Buches, Ebd., 148-170.