Stabat Mater [zum Karfreitag]

Etwa 40 Kilometer westlich von Rom hängt die uralte Stadt Palestrina an einem pittoresken Berghang. Auf dem Gipfel des Berges, über der Stadt liegt das Dorf Castel San Pietro. 1300, als in Rom das erste Heilige Jahr der Geschichte gefeiert wurde, saß dort ein Gefangener mit Namen Jacopone da Todi. Er war ein Mensch, der alles verloren hatte. Ursprünglich war Jacopone ein wohlhabender Notar gewesen. Dann hatte er bei einem Unglück seine geliebte Frau verloren. In seinem Schmerz über den Verlust beschloss Jacopone, der Welt zu entsagen und trat in den Orden der Franziskaner ein. Er lebte als Büßer und Asket und predigte die radikale Armut um des Himmelreiches Willen. Nebenbei dichtete er. So schrieb er etwa folgende Zeilen:

Mensch, bedenk aus was wir sind,

Was wir waren, was wir werden,

Und wohin wir kehren müssen,

Mach dich dran, dem nachzusinnen.

Bist aus niedrem Stoff gebildet,

Und in Weinen nur gezeitigt,

Bist in Elend umgegangen,

Mußt zur Asche wiedrum kehren.

Bist gekommen wie ein Pilgrim,

Nackt und arm, elendiglich,

Und beim Antritt deiner Wand’rung

Weinen war dein erster Sang[1]

Eine große Traurigkeit und harter Ernst durchzieht diese Zeilen. Jacopone zog gegen die kirchliche Pracht zu Felde. Er ermahnte zur Armut und Entsagung. Dafür wurde ihm die Freiheit genommen. Während unten im Tal die große Stadt Rom und ihre Kirchen prachtvoll renoviert, mit neuen Fresken und Mosaiken geschmückt wurde und der Papst die Pilger zum großen Fest des Heiligen Jahres begrüßte, saß Jacopone auf dem Berg im Gefängnis und schrieb der Legende nach ein Gedicht, dass die Passionszeit bis heute prägt. Es heißt „Stabat Mater“, „Die Mutter Jesu stand unter dem Kreuz“[2]. Der Text schildert das Leiden Mariens bei der Kreuzigung Jesu. Im Gedicht heißt es:

Für die Sünden von uns allen

sah sie [Maria] Jesum qualvoll fallen,

ausgepeitscht voll Spott und Hohn,

sah ihr liebes Kind verlassen,

hoffnungslos am Kreuz erblassen,

sterben sah sie ihren Sohn.

Ach du Mutter, Quell der Liebe,

dass des Schmerzes Kraft mich triebe,

dass ich mit dir trauern kann.

Lass mein Herz in Liebe brennen,

Christum meinen Herren nennen,

dass ich ihm gefalle dann.[3]

Die Leiden Jesu sind auch die Leiden Mariens. Diese Leiden Mariens stehen zugleich für die Leiden der Gläubigen, der seinen persönlichen Schmerz mit in den Text hineinlegt. Jesus – Maria – und ich selbst: Es entsteht eine Gemeinschaft in der Passion, eine Leidensgemeinschaft, die gemeinsam auf die Erlösung hofft.

Maria und der Jünger Johannes unter dem Kreuz, übrigens der einzige, der bei Jesus auf seinem Leidensweg geblieben ist. Über diese Szene des Johannesevangeliums ist in der kirchlichen Tradition viel geschrieben worden. Jesus stiftet vom Kreuz eine neue Gemeinschaft, eine neue Familie. Maria und Johannes – das wird gedeutet als Urzelle der Kirche, der Gemeinschaft der Glaubenden, die sich unter dem Kreuz versammelt. Joseph Ratzinger hat über diese Szene der Passion geschrieben: „Wie Maria, so ist auch der Lieblingsjünger [Johannes] zugleich eine konkrete Gestalt und ein Typus für Jüngerschaft, wie es sie immer geben wird und geben muss“.[4] Was sagt dieser Gedanke aus? Er sagt, dass die Kirche eine Gemeinschaft im Leiden ist. In dieser Form der Gemeinschaft ist sie vielleicht echter und wahrer als in vielen anderen Formen ihres Daseins. Die Begegnung im Leiden und mit den Leidenden ist eine wahre Christusbegegnung. „Einer trage des anderen Last“ (Gal 6,2), sagt Paulus und, bezogen auf die Kirche: „Wenn ein Glied leidet, dann leiden die anderen Glieder mit ihm“ (1Kor 12,26).

In dieser Stunde, wo wir gerade festlich des Leidens Jesu gedenken und das Kreuz verehren, darf dies keine leere Geste sein. Wir nehmen unsere Leiden und Beschwernisse in diese Geste hinein. Und wir nehmen die mit hinein, die gerade bildlich gesprochen fern von uns auf dem Berg sitzen, in der Gefangenschaft von Krankheit, Trauer, Alleinsein, Leere, Depression, von drohender Gewalt, Krieg und Vertreibung, in Sorge um einen anderen Menschen, in Verzweiflung über das eigene Leben.

Aber das ist nicht alles. Die Begegnung mit dem Kreuz fordert unsere Bereitschaft zur Begegnung mit dem Leiden und den Leidenden neu heraus. Es soll ein nicht bloß symbolisches, sondern ein echtes Mittragen und Mithoffen mit denen sein, die ihren eigenen Leidensweg gehen. Erst so wird die Kirche zu einer glaubhaften, echten Gemeinschaft in Christus. Das ist die christliche Herausforderung, die uns in diesen Tagen noch einmal in eindrücklicher Weise gestellt wird.

Maria wird dabei auch uns zur Seite gegeben, als Trösterin und Fürsprecherin. Mit dem Stabat Mater können wir beten:

Lass die Wunden mich verletzen,

an das Kreuz dort mich versetzen

ob der Liebe zu dem Sohn.

In des Jüngsten Tages Wehen

bitt‘ ich dich, mir beizustehen,

wenn erschallt Posaunenton.  

Nächtlicher Blick von Castel San Pietro auf Rom

Beitragsbild: Kreuzigung mit Maria und Johannes, Freskenrest in Santo Stefano, Bologna


[1] https://www.projekt-gutenberg.org/thode/franz2/chap004.html

[2] Der Text wurde lange Jacopone zugeschrieben. Wahrscheinlich aber ist er bereits älter.

[3] Textversion nach Otmar Fiedler

[4] Joseph Ratzinger, Jesus von Nazareth II, Freiburg 2011, 246.

Ein Kommentar zu „Stabat Mater [zum Karfreitag]

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