Nova creatura – Zum Tod von Erzbischof em. Werner Thissen

„In Christo nova creatura“ – „In Gott sind wir neue Schöpfung“ (2Kor 5,17). Dies war der Wahlspruch des Hamburger Erzbischofs Dr. Werner Thissen, der am 15. April verstorben ist. Bei seiner Amtseinführung im Hamburger Mariendom im Jahr 2003 überraschte der neue Bischof die Gläubigen mit einer Vertonung dieses Leitwortes, die er als Kanon von der versammelten Gemeinde singen ließ und dabei selbst dirigierte. Es war der schwungvolle Auftakt zu seiner elfjährigen Amtszeit.

Das Erzbistum Hamburg, gegründet 1995 steckte noch in den Kinderschuhen und musste gerade seine erste tiefe Krise bewältigen. Ein harter finanzieller Konsoldierungsprozess hinterließ Spuren und große Unsicherheiten. Erzbischof Werner trat als Nachfolger des geschätzten „Gründerbischof“ Ludwig Averkamp ein nicht ganz leichtes Erbe an. So war es ihm ein Anliegen, dem Erzbistum, das zu dieser Zeit noch ein starkes regionales Eigenleben in Schleswig-Holstein, Mecklenburg und Hamburg führte, eine neue eigene Identität zu geben.

Die Figur des Erzbischofs trat nun deutlicher hervor. Werner Thissen war als langjähriger Sprecher des „Wort zum Sonntag“ aufmerksam für die Rolle der Medien und nutzte die damals zur Verfügung stehenden Kanäle. In einer wöchentlichen Presserunde legte er Wert auf regelmäßige Berichterstattung und mediale Verbreitung und nahm auch selbst gerne öffentliche Termine wahr. So sah man ihn bei einem Besuch in der Lübecker Marzipanfabrik, bei Segnung der Ernte im Alten Land oder als Gast beim Hamburger SV. Von Beginn an hatte er sich als ehemaligen Fußballspieler und Fan ins Gespräch gebracht und wechselte von seinem eigentlichen Verein Borussia Dortmund ins Fanlager des HSV – ein Schritt, dem ihm die Mecklenburger Jugendlichen, damals noch überwiegend Hansa Rostock-Fans, durchaus übelnahmen. Zur Weltmeisterschaft in Deutschland 2006 gab es ein kirchliches Begleitprogramm und der auch im Deutschlandtrikot zu sehende Fußballfan Thissen veröffentlichte ein Büchlein mit geistlichen „Fußball-Impulsen“.

Zum Programm der Stärkung des Erzbistums gehörte auch die Renovierung des Mariendoms. Dem neuen Erzbischof war es ein Anliegen, der in die Jahre gekommenen Marienkirche im Stadtteil St. Georg ein neues Aussehen zu geben und sie zu einer „richtigen“ Domkirche umzugestalten. Dass dies geschah, war sicher vor allem der Hartnäckigkeit Thissens zu verdanken, da in der Zeit der Konsolidierung eigentlich kein Geld zur Verfügung stand. Der Erzbischof betätigte sich selbst als Spendensammler und ermöglichte so den Umbau der Kathedrale, die fortan als „Neuer Mariendom“ mit neuer Adresse „Am Mariendom“ neu in das Bewusstsein der Hamburger und Stadttouristen verankert werden konnte. Ebenso hartnäckig verfolgte Erzbischof Werner den Prozess der Seligsprechung der Lübecker Märtyrer. Auch dies war ein durchaus gewagter Schritt, war doch einer der vier ermordeten Geistlichen von Lübeck ein evangelischer Pastor gewesen, weswegen man aus ökumenischer Rücksicht von einem formalen Seligsprechungsprozess lange abgesehen hatte. Thissen gelang es, in enger Abstimmung mit der evangelischen Kirche für das Anliegen zu werben. Der Moment, in dem er bei der Seligsprechungsfeier die Urkunde mit der Bestätigung der Kanonisierung in den Händen hielt und sie den versammelten Gläubigen zeigte, war vielleicht für ihn persönlich der Höhepunkt seiner Amtszeit.

Werner Thissen wurde 1938 in Kleve am Niederrhein geboren. Nach seiner Kaplanszeit war er im Bistum Münster zunächst in der Priesterausbildung eingesetzt und verfasste seine Doktorarbeit im Fach „Neues Testament“ über das Markusevangelium. Abschließend war er lange Jahre in verschiedenen Aufgaben im Generalvikariat tätig, als Leiter des Seelsorgeamtes, als Personalchef und Generalvikar. 1999 wurde er Weihbischof. Thissen war schon zu seiner Zeit in Münster als Prediger bekannt. Er bemühte sich um eine lebensnahe, verständliche Auslegung des Evangeliums, die er stets in freier Rede vortrug. Ihm war wichtig, dass die Gemeinde etwas für die Predigt für das eigene Leben und die eigene Glaubenspraxis mitnehmen konnte. Besonders gern predigte er für Jugendliche.

Ich habe Erzbischof Werner gut kennenlernen können. Er war nicht nur mein „Weihebischof“ sondern hatte mir die Aufgaben als Jugendpfarrer im Erzbistum Hamburg und später als Leiter des Seelsorgeamts persönlich übertragen. In dieser Funktion war ich Mitglied des Bischofsrats und auch mit der Umsetzung einiger persönlicher Anliegen des Bischofs betraut. Mit seiner langjährigen Erfahrung in der kirchlichen Verwaltung legte Erzbischof Werner Wert darauf, gut informiert zu sein. In wöchentlichen Sitzungen wurde das Tagesgeschehen besprochen. Dabei nahm sich Thissen bestimmter Anliegen persönlich an. Besonders wichtig war ihm der Kontakt zu Priestern, die in einer persönlichen Krise waren. Hier bemühte er sich intensiv um eine bischöflich-seelsorgliche Begleitung. Ein guter Zusammenhalt im Presbyterium war ihm wichtig. So initiierte Werner Thissen den jährlichen Priestertag und verschrieb den Priestern eine jährliche Fortbildung in theologischen Fragen.

Zwei große Aufgaben haben die letzten Jahre seiner Amtszeit geprägt: Seit 2008 hatte er den Prozess der „Pastoralen Räume“ angestoßen, der zur Bildung von 28 Großpfarreien führte und erst 2018 abgeschlossen werden konnte. Ab 2010 erforderte die Aufarbeitung des Missbrauchs in der Kirche und der Aufbau einer Präventionsstruktur große Anstrengungen. Erzbischof Werner ermöglichte ein schnelles Handeln und eine rasche Umsetzung der Verfahrens- und Präventionsordnungen. Mehrfach kam er mit Betroffenen zusammen. Allerdings stellte die Aufarbeitung des Missbrauchs auch seine persönliche Amtsführung als Personalchef in Münster in Frage. In einem Interview bekannte er sich zu Fehlern, die er gemacht hatte. Dies war wohl einer der Gründe, aus denen er sich ab 2014 nach seiner Emeritierung ein wenig aus der Bistumsöffentlichkeit zurückzog.

Der Mensch Werner Thissen trat hinter dem Bischof immer zurück. Obwohl ich häufig mit ihm im Gespräch war und auch den ein oder anderen nichtdienstlichen Termin mit ihm erleben konnte, blieb er im Persönlichen immer etwas verschlossen. Dabei war er ein geselliger Mensch. Er mochte gutes Essen und lud gerne auch großzügig Menschen zum gemeinsamen Essen ein. Er ging gerne ins Konzert und war ein Freund und Kenner des klassischen Repertoires mit einer Vorliebe für Mahler, Schubert und Bach. Er mochte Lyrik und zitierte gerne prägende Dichter seiner Zeit wie etwa Elie Wiesel. Nicht nur aus Pflichtbewusstsein ging Werner Thissen zu offiziellen Empfängen und Anlässen und war besonders in der Stadt Hamburg mit so manchem Prominenten bekannt, von denen er auch immer wieder gerne erzählte.

Nach einem Konzertbesuch ging ich an einem Abend mit Erzbischof Werner von der Musikhalle zum Dom zurück. Auf der Hamburger Lombardsbrücke, von der man den besten Blick auf die Binnenalster und die Hamburger Innenstadt hat blieb er stehen. „Vor vielen Jahren“, so sagte er, „war ich mit meinem Münsteraner Weihekurs in Hamburg. Da habe ich hier gestanden, die Arme ausgebreitet und gerufen: ‚Hamburg, was bist du schön!‘. Da wusste ich natürlich noch nicht, dass ich einmal als Bischof hierherkommen würde.“ Ich habe mich an diesen Moment erinnert, weil in ihm in diesem Moment eine große Zufriedenheit und etwas Stolz zu liegen schien. Werner Thissen mochte Hamburg und bei allen Schwierigkeiten, wohl auch seine Aufgabe als Bischof.

Was wird er jetzt wohl angesichts des himmlischen Jerusalem sagen? „In Christo nova creatura“ – dieser Bibelvers spricht ja auf die große Verwandlung der Erlösung an. Er wirft damit auch schon einen Blick in die himmlische Wirklichkeit. Alles soll einmal verwandelt werden. Unser Leben steht in Gottes Hand, der uns in der Weite seiner Liebe und Barmherzigkeit führen möchte. Die Reise des Lebens geht dort zu Ende. Ich hoffe, dass Werner Thissen in dieser ewigen Heimat angekommen ist.  

Ein Kommentar zu „Nova creatura – Zum Tod von Erzbischof em. Werner Thissen

  1. Vielen Dank für den wertvollen Lebensrückblick von dem Werten Verstorbenen Bischof Werner… Gott möge ihm alles Gute vergelten.

    Auch ich erfuhr ihn als weisen Seelsorger, er löste in mir einen Knoten von Zweifeln im Gespräch und seine Predigt nahm die Gegenwart und ihre Zeichen auf und nannte bei Namen, was nötig war.

    Der Herr schenke ihm die ewige Ruhe und das Ewige Licht ihm. Herr, lass ihn ruhen in Frieden. Amen+

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