Neujahrskonzert: Gerald Finzis sanfter Abschied vom Alten Jahr

Während die Wiener Philharmoniker am Neujahrstag gemäß ihrer Tradition wieder Walzer und Unterhaltungsmusik präsentieren und zahlreiche andere Orchester den Jahreswechsel mit allerlei festlicher Musik begleiten, möchte ich zu einem kleinen Neujahrskonzert einladen, das für eine Moment in die Ruhe und Innerlichkeit entführt.

Es geht um Musik von Gerald Finzi.[1] Er wurde 1901 in London geboren und starb bereits im Alter von 55 Jahren. Bekannt ist er in Deutschland wahrscheinlich nur wenigen. Er schrieb Musik in einer Zeit, in der in Deutschland und Österreich Richard Strauß komponierte, Gustav Mahlers Sinfonien in den Konzertsälen der ganzen Welt gespielt wurden. Es war die Zeit von Paul Hindemith, Erich Korngold und Kurt Weill. In England waren Ralph Vaugham Williams und Gustav Holst die Komponisten der Stunde. Gerald Finzi bewunderte beide und war mit ihnen bekannt. Für die Komponisten seiner Zeit, der Generation nach Williams, war es schwieriger, Beachtung zu finden. Dabei hatte Finzi in der Musikwelt Großbritanniens durchaus einen guten Ruf, wurde aber im Nachruhm vom gleichalten William Walton und dem 10 Jahre jüngeren Benjamin Britten überholt.

Finzi stammte aus einer wohlhabenden Familie. Sein Vater Jack, der aus einer italienischstämmigen jüdischen Familie kam, verdiente sein Geld als Schiffsmakler. In dessen Verwandtschaft fanden sich Ärzte, Forscher, Rabbiner und Künstler. Seine Mutter Lizzie stammte aus einer vermögenden deutschen jüdischen Familie. Gerald war das jüngste der fünf Geschwister. Als er acht Jahre alt war, starb sein Vater, in den darauffolgenden Jahren zwei seiner Brüder. Gerald war ein introvertiertes Kind. Schon früh beschloss er als Jugendlicher, sich ganz der Musik zu widmen und zu komponieren. Dabei hat er nie eine Akademie besucht und war auch kein begnadeter Pianist. Finzi war eng mit seinem Heimatland verbunden, sah sich in der englischen Musiktradition nach Elgar und verbrachte sein Leben die meiste Zeit auf dem Land, liebte seine Familie, den Garten und die Landschaft. Er vermied Auslandsreisen. Er litt an chronischen Krankheiten, pflegte aber den Kontakt zu anderen Komponisten und Künstlern seiner Zeit. Besonders wusste er sich der englischen Dichtung verpflichtet. Er führte ein Leben, das sich der Schönheit und Natürlichkeit verpflichtet fühlte und damit eine durchaus typische Prägung der 20er Jahre hatte. In seiner Generation war das Zurück-zur -Natur besonders lebendig, gerade auch, weil diese Generation die beiden großen Kriege in Europa erleben musste. Seine Musik bewahrt diese Suche nach innerer, einfacher Schönheit und war schon zu seinen Lebzeiten damit unmodern. In Finzis Werken liegt eine religiöse Qualität, auch wenn sich der Komponist privat wenig explizit religiös positionierte. Dennoch: Die Schöpfung, die Schönheit, das Leben, die Kunst – alles das kommt in seinem Werk zum Klingen, das uns ein wenig wie der Soundtrack eines englischen Gartens erscheinen mag.

Gerald Finzi schrieb 1926 ein Nocturne, eine Abendmusik für den Silvesterabend. Er hatte sich über die lauten Neujahrsfeierlichkeiten seiner Tage beklagt und wollte ein Werk schaffen, das einen Gegenpol setzen sollte. Er beschreibt den Charakter seines Werkes als „nüchterne Traurigkeit“. Am Abend vor dem neuen Jahr geht es also um eine Szene des langsamen Abschieds vom alten Jahr. Finzi beschrieb seine Empfindungen beim Läuten der Neujahrsglocken: „Bei diesem Klang sammeln sich in mir die Bilder der vergangenen zwölf Monate“. Die Streichermelodie erhebt sich am Anfang nach einigen Takten aus dem leisen Untergrund der von den Kontrabässen gespielten Linie. Die Melodie baut sich nun langsam zu einem choralartigen Gesang des ganzen Orchesters auf, ein Augenblick des festlichen Lichtes, der dann langsam wieder in sich zusammensinkt. Am Ende bleibt wieder das ruhige Pulsen der Streicher zurück und verklingt.

Im Jahr 1939 schrieb Finzi die Endfassung seiner Kantate „Dies Natalis“, ein Werk, das er bereits zehn Jahre zuvor in einer ersten Version komponiert hatte. Finzi vertonte dabei Gedichte des englischen Dichters Thomas Taherne aus dem 17. Jahrhundert. Finzi stellte die Textpassagen aus einem längeren Werk Tahernes zusammen. Der Titel „Dies Natalis“ ist zweideutig. Zum einen meint er, aus dem Lateinischen übersetzt schlicht „Geburtstag“, zum anderen ist eine Anspielung auf Weihnachten nicht zu überhören. Im Text fallen beide Dimensionen zusammen. Im ersten Gesangsstück der Kantate mit dem Titel „Rhapsody“ heißt es:    

Kannst du die Kindheit in ihrer erhabenen und himmlischen Größe sehen? Ich war ein Fremder, der bei meinem Eintritt in die Welt begrüßt und mit unzähligen Freuden umgeben wurde: mein Wissen war göttlich. Ich wurde wie ein Engel mit den Werken Gottes in ihrer Pracht und Herrlichkeit unterhalten. Himmel und Erde sangen Loblieder auf meinen Schöpfer und konnten Adam nicht mehr Melodien singen als mir. Sicherlich hatte Adam im Paradies keine süßeren und neugierigeren Vorstellungen von der Welt als ich. Alles erschien zunächst neu und seltsam, unbeschreiblich selten und entzückend und schön. Alle Dinge waren makellos und rein und herrlich.

Wer spricht hier? Gemeint ist das eigene Ich als Kind, als ein Geschöpf, das in ein Paradies hineingeboren wird. Das Lied des Schöpfers ist über ihm ausgebreitet, so wie es bei Adam war. Der Verweis auf den ersten Menschen allerdings enthält schon die Vorahnungen des Kommenden. Hier allerdings ist die „Unschuld“ des Kindes noch vollkommen:

O, wie ehrwürdige Geschöpfe erschienen mir die Alten! Unsterbliche Cherubim! Und die jungen Männer glitzernde und funkelnde Engel und Mädchen seltsame seraphische Stücke des Lebens und der Schönheit! Ich wusste nicht, dass sie geboren wurden oder sterben sollten; aber alle Dinge blieben ewig. Ich wusste nicht, dass es Sünden oder Klagen oder Gesetze gab. Ich träumte nicht von Armut, Streit oder Lastern. Alle Tränen und Streitigkeiten waren vor meinen Augen verborgen. Ich sah alles im Frieden von Eden. Alles war in Ruhe, frei und unsterblich.

Das Kind weiß noch nichts vom Sterben und Vergehen, von den Gesetzen und Härten der Welt. Es nimmt die Dinge so hin, wie sie sind und freut sich an ihnen. Das Kind und damit sicher in Anspielungen auf Weihnachten sagt von sich im nächsten Stück des Werkes:

Wie kam ich herab wie ein Engel! / Wie hell sind alle Dinge hier! / Als ich als erster unter seinen Werken erschien, / O wie krönte mich ihre Herrlichkeit! / Die Welt glich seiner Ewigkeit, / in der meine Seele wandelte; Und alles, was ich sah / sprach mit mir: / Der Himmel in seiner Pracht, / die liebliche, lebendige Luft, / O wie göttlich, wie sanft, wie süß, wie schön! / Die Sterne unterhielten meine Sinne; / und alle Werke Gottes schienen so hell und rein, so reich und groß, / Als ob sie für immer in meiner Wertschätzung bestehen müssten.

Wie in Psalm 139 beschrieben, sieht sich das Kind als von Unendlichkeit her gewollt und geliebt. Im fünften Satz von „Dies Natalis“ heißt es:

Als ich so viele tausend Jahre stumm war, / unter dem Staub in einem Chaos lag, wie konnte ich da Lächeln oder Tränen, / oder Lippen, oder Hände, oder Augen, oder Ohren wahrnehmen? / Willkommen, ihr Schätze, die ich jetzt empfange. / Aus dem Staub erhebe ich mich und erwache jetzt aus dem Nichts, / diese helleren Regionen, die meine Augen grüßen, / Ein Geschenk Gottes nehme ich an, die Erde, die Meere, das Licht, die erhabenen Himmel, / Die Sonne und die Sterne sind mein: wenn ich diese schätze.

Gerald Finzi nimmt den fröhlichen Ernst, das Staunen und den Dank, der in den Versen steckt in seine Musik auf, lässt die Gesangsmelodie weitgehend leicht über den Streicherklängen schweben. Hier ist für einen durchaus weihnachtlichen Moment alles Wunder.

Den Abschluss des kleinen Konzerts bildet Finzis Ekloge (Hirtengedicht) für Klavier und Orchester. Sie ist ursprünglich als langsamer Satz für ein längeres Klavierkonzert vorgesehen. Hier singt das Klavier zu Beginn eine einfache Melodie, die sich aber scheinbar unendlich fortsetzt, von den Streichern übernommen und variiert wird. Die Melodie singt sich durch die unterschiedlichen Tonarten und über Taktwechsel hinweg, immer in einer Mischung aus Heiterkeit und Melancholie, bis sie in einem langen Schluss schließlich wieder sanft verklingt. So kann sicher auch ein besinnlicher Jahreswechsle aussehen. Ein wenig Wehmut am Ende des Jahres, aber auch ein Gefühl, das Alte ruhen zu lassen und mit Hoffnung weiterzugehen. Finzis Musik versöhnt.


[1] Für die Anmerkungen zu Finzis Leben und Werk beziehe ich mich auf Diana McVeagh, Gerald Finzi – Life and music, Woodbridge 2005.

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