Zum Tag der Deutschen Einheit, dessen zentrale Feier in diesem Jahr in Schwerin stattfindet, zeigt unsere Gemeinde in der Propsteikirche ein Fenster. Es erzählt aus der Geschichte der Mecklenburger Katholiken.
In Schwerin, wie auch in anderen Städten der DDR gab es ein großes Problem: Das Wohnen. Wohnraum war knapp, die Altbauten sanierungsbedürftig, die Mieten so wenig einträglich, dass sich deren Besitzer Restaurierungen oft nicht leisten konnten. 1971 beschloss der achte Parteitag der SED ein umfangreiches Wohnungsprogramm. Um dem Grundsatz nachkommen zu können, nach dem jeder seine eigene Wohnung erhalten sollte, wurden in der Folge drei Millionen Wohnungen in der damals industriell fortschrittlichen Plattenbauweise errichtet. Die Wohnungen hatten Normgrößen. Sie folgten der Logik des sozialistischen Staates, die eine Gleichbehandlung aller Bürger vorsah. Das Wohnen als Statussymbol sollte damit überwunden werden. Die vielen Wohnungen von damals waren eine Maßnahme gegen den Wohnungsmangel und die fehlende Sanierung des Bestands. So kam es 1971 zur Grundsteinlegung für einen neuen Stadtteil in Schwerin, der unter dem Titel „Großer Dreesch“ bekannt geworden ist. Es entstand eine Stadt der Gleichen in genormten Neubauwohnungen, die im Vergleich zum Altbau in der Innenstadt über den Komfort der Zentralheizung verfügten. So wurde innerhalb eines Jahrzehnts eine „sozialistische Musterstadt“ für mehr als 60 000 Einwohner gebaut. Zur Staatsideologie gehörte, dass ein solcher Stadtteil für den modernen, sozialistischen Menschen ohne die Bauten der „alten Ordnung“ auskommen musste. Nichts sollte an die schließlich „überkommenen“ Gesellschaftsformen vergangener Zeite erinnern. Dazu gehörte auch, dass hier eine „Stadt ohne Gott“ entstand, d.h., ohne Kirchbauten.
Offenbar lässt sich allerdings keine Ideologie ohne Kompromisse denken. Als in den späten 70er Jahren die Staatsfinanzen marode und der Sozialismus etwas weniger konsequent wurde, erkannten die Kirchen ihre Chance. Schließlich galt es, seelsorglich den Katholiken in den Neubaugebieten nahe zu bleiben.[1] 1977 legten die ostdeutschen Bischöfe ein Sonderbauprogramm auf, zu dem ihnen aus den Bistümern der BRD rund 36 Millionen D-Mark zur Verfügung gestellt wurden. In Schwerin wurde 1976 mit dem Aufbau einer eigenen Gemeinde unter dem Patronat des Heiligen Andreas begonnen. Nach jahrelangen Verhandlungen wurde auf einem neuen Bauplatz am Rande des Neubaugebiets im sogenannten Mueßer Holz mit dem Bau einer Kirche, eines Gemeindezentrums und eines Ordenshauses begonnen. Das „Kloster“ auf den Dreesch diente für das Noviziat und die örtliche Leitung der „Missionsschwestern vom Heiligen Namen Mariens“. Der Orden, der seinen Stammsitz in Nette bei Osnabrück hatte, war 1920 durch Bischof Berning in Osnabrück gegründet worden. Die Schwestern erhielten die Aufgabe, die Katholiken in der weiten Diaspora des Bistums zu unterstützen. Sie arbeiteten in der Gemeindeseelsorge, in Kindergärten und sozialen Einrichtungen, kümmerten sich um Kranke und Familien. Kirche und Kloster auf dem „Dreesch“ wurden 1983 fertiggestellt und eingeweiht.
So entstand eine stattliche katholische „Niederlassung“ mitten im sozialistischen Neubau. In der „Stadt ohne Gott“ war ein Kloster entstanden. Dort, wo sonst keiner beten sollte, wurde gebetet. Das Kloster wurde zu einem Anlaufpunkt für Bedürftige. Im Eingangsbereich des Klosters hatten die Schwestern ein Gedicht von Silja Walter aufgehängt. In diesem Text mit dem Titel „Gebet des Klosters am Rand der Stadt“ heißt es: „Jemand muss zuhause sein, Herr, wenn du kommst. Jemand Muss dich erwarten, unten am Fluss vor der Stadt. Jemand muss nach dir Ausschau halten, Tag und Nacht. Wer weiss denn, wann du kommst?“[2]
Das Gedicht verweist auf die christliche Hoffnung. Ähnlich wie im Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen betont es die Bedeutung des Wachens und Betens. Im Warten auf den wiederkehrenden Christus drückt sich die Überzeugung aus, dass die weltliche Ordnung nur von vorübergehender Bedeutung ist. Im Kontext des Sozialismus, der sich ja als Endpunkt der menschlichen Geschichte empfand, ist dies eine Provokation. Christlich gedacht: Auch der Sozialismus wird vergehen und wird auf seine Vorläufigkeit verwiesen werden. Ein Ort wie das kleine Kloster war in gewisser Weise ein Ort der geistlichen Widerständigkeit gegen jede Form der menschlichen Herrschaft. Jemand muss wachen und da sein, jemand muss noch erwarten und hoffen.

Nach der Wende zogen viele Bewohner des „Großen Dreesch“ in andere Viertel. Der Stadtteil litt unter Wohnungsleerstand und verfiel. Die Wohnblöcke wurden zum Teil saniert oder abgerissen. Heute wohnen etwa 25 000 Menschen im damaligen Neubaugebiet. Der Große Dreesch und die mit ihm verbundenen Viertel „Mueßer Holz“ und „Neu Zippendorf“ wurde zunehmend als „Problemstadtteile“ wahrgenommen. Die Gemeinde St. Andreas veränderte sich. Heute ist sie zu einem wichtigen Standort der caritativen Arbeit geworden. Seit 2015 ist das Begegnungscafé ein wichtiger Anlaufpunkt für Migranten. Im Projekt „Spielend Deutsch lernen“ engagiert sich die Caritas für Kinder aus Familien, die aus anderen Ländern zugezogen sind. Zudem wurden von der Caritas weitere Projekte zur Unterstützunf von bedürftigen und Jugendlichen im Stadtteil initiiert.
In der Nachwendezeit blieb das Kloster bis 2023 erhalten. Die Schwestern arbeiteten und beteten im sich verändernden Stadtteil. Über Jahrzehnte nahmen sie die Gebetsanliegen der Menschen aus dem 1995 gegründeten Erzbistum Hamburg an. Das „Kloster am Rand der Stadt“ blieb ein Ort der Fürsorge und der christlichen Hoffnung. Auch heute bleibt das Bewusstsein um die Vorläufigkeit der Zeit wach. Das Bild der Wiederkunft Christi und des Reiches Gottes verweist auf die Unfertigkeiten, Nöte und Ungerechtigkeiten unserer Zeit. Auch heute noch muss „jemand wachen“. Das in St. Anna ausgestellte Fenster stammt aus der Kapelle des Klosters. Es zeigt abstrakte Formen, in denen man mit etwas Phantasie eine Marienfigur erkennen kann (man achte auf die leicht hellblauen Teile des Fensters). Bei allem, was sich verändert und vorübergeht: Glaube, Liebe und Hoffnung haben Bestand. Sie sind die Merkmale eines Glaubens an den lebendigen Gott, der alle Menschen in seine Liebe einschließt und der für uns da ist.

[1] Zur Entstehung der Gemeinde St. Andreas: Georg Diederich, Chronik der Katholischen Kirche in Mecklenburg, Bd. 3, 739-757.
[2] Der komplette Text hier: Gebet-des-Klosters-am-Rand-der-Stadt.pdf (kath.ch)
Das Gefühl kann scheitern, vor dem unsichtbaren Gott in uns selbst.
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