Ich erinnere mich noch ganz gut, wie es war, als ich das erste Mal die Berge gesehen habe, ich meine, so richtige Berge. Ich kannte als Kind die kleinen Mittelgebirge. Ich hatte von den Bergen in Geschichten gehört. Ich hatte Fotos gesehen und selbst Berge gemalt. Und dann fuhren wir tatsächlich in einem Sommer in den Urlaub in die Alpen. Das war beeindruckend. Die Berge waren anders, als ich sie mir vorgestellt hatte. Sie waren gar nicht so spitz, wie ich sie gemalt hatte. Auf einmal hatte ich eine lebendige Vorstellung von ihnen. Ich hatte sie wirklich gesehen. Sie waren schön, aber auch schroff. Sie haben mir gleichzeitig Geborgenheit vermittelt und Gefahr. Sie waren für mich etwas Neues, das ich erst kennenlernen musste.
Das ist ja das Schöne an der Kindheit und Jugend. Man erlebt und sieht viele Dinge zum ersten Mal. Und der erste Eindruck ist meist sehr intensiv: Das erste Mal im Meer baden oder ins Kino gehen. Der erste Schultag oder die erste Kinderfreizeit, das erste Mal auf einer Hochzeit oder bei einer Beerdigung, das erste Mal im Krankenhaus oder das erste Mal im Club (was früher Disco hieß), der erste Urlaub ohne Erwachsene, die erste Liebe und der erste Liebeskummer, die erste Fahrstunde. Stück für Stück erweitert sich über die Jahre mein Horizont. Als Jugendlicher stellt man sich vor, dass das immer so weitergeht. Natürlich kommen mit der Zeit auch immer wieder neue Erfahrungen, aber das Neue wird seltener. Wir schaffen uns daher selbst Gelegenheiten, um etwas Neues zu erleben, den Horizont immer noch weiter zu machen, indem wir Bücher lesen oder Filme schauen, Fortbildungen und Schulungen belegen, neue Sportarten ausprobieren, Hobbies entwickeln, neue Leute kennenlernen und in die Welt reisen. Aber es gibt auch die gegenteilige Tendenz. Es gibt auch die Punkte, an denen ich keine Lust mehr auf etwas Neues habe, sondern lieber möchte, das die Dinge stabil bleiben, dass ich mich in einem festen Horizont bewege, in dem ich mich auskenne und sicher fühle.
Ich glaube, man kann das heutige Evangelium in dieser Weise deuten. Nehmen wir den Taubstummen, dem Jesus die Ohren und den Mund öffnet als ein Bild. Hier geht es im übertragenen Sinn um eine Horizonterweiterung ungeahnten Ausmaßes. Zum ersten Mal öffnet sich den Ohren und der Stimme des Mannes eine ganz neue Dimension. Das geschieht, weil Jesus ihn angesprochen und berührt hat. Es ist eine Metapher für eine Glaubenserfahrung.
Ich denke einmal, Sie alle kennen Menschen, die für die Fragen des Glaubens taub und stumm sind. Sie verstehen die Worte der Gebete nicht. Sie können selbst keine Worte finden für das, was über ihren Welthorizont hinausgeht. Sie entwickeln kein Gefühl für den Glauben. Auch hier gilt: Der Horizont tut sich erst auf, wenn ich selbst etwas erfahre und sehe.
Vor ein paar Monaten hat mich ein junger Mann besucht. Er erzählte mir von seinem Weg. Er habe, so sagte er, nie etwas mit dem Glauben zu tun gehabt. Bei seiner Arbeit als Krankenpfleger begegnete er einer alten Frau. Sie hatte in ihrem Zimmer ein Kreuz und andere christliche Bilder. Sie hat gebetet. Und sie hat mit dem jungen Pfleger gesprochen. Und dann kam der Tag der alles veränderte. Der Mann erzählte, wie er mit einem Mal den Eindruck hatte, von Gott umgeben zu sein. Er konnte seine Gegenwart spüren. Dieser Moment hat alles verändert. „Ich bin jetzt ein sehr gläubiger Mensch“ – hat er gesagt. Weil Gott ihn berührt hat und seine Sinne für seine Gegenwart geöffnet hat.
Eine so intensive Erfahrung haben vielleicht nur wenige von uns gehabt. Ich glaube, dass so etwas selten ist. Aber ich vermute, dass jeder von uns doch Erfahrungen gemacht hat. Warum sollte ich glauben, beten oder zur Kirche gehen, wenn ich keinen Sinn dafür hätte, kein Gefühl, dass dies so richtig ist?
Die Glaubenserfahrung öffnet einen ganz neuen Horizont. Es erschließt sich eine ganze Welt von Erfahrungen, von Worten, Bildern und Riten. Und auch hier gibt es wieder zwei Bewegungen: Die einen versuchen, das Neue der Glaubenserfahrung immer wieder zu wiederholen. In Wahrheit ist es da wie beim Autofahren. Das erste Mal Tempo 100 zu fahren ist ungemein aufregend, das zweite Mal auch noch. Beim 50. Mal ist es schon Routine und irgendwann sehe darin gar nichts Besonderes mehr. Manchmal langweilt es mich sogar. Aber, kleine Erinnerung: Ich fahre trotzdem immer noch Tempo 100. Die Bewegung ist die gleiche. Ich kann, bezogen auf den Glauben versuchen, meinen Erfahrungshorizont immer mehr zu steigern und zu vertiefen. Ich habe Leute kennengelernt, die man darin auch einmal bremsen musste. Sie hatten Angst, dass ihr Glaube schwach geworden sei, weil sie nicht mehr ständig neue Erfahrungen machten und deshalb meinten, immer noch mehr beten zu müssen, noch mehr Gutes zu tun, immer noch eine neue Gebetsform auszuprobieren, von einer Wallfahrt zur anderen zu reisen. Kleine Erinnerung: Du fährst immer noch 100. Mit anderen Worten: Gott liebt dich noch immer. Er ist immer noch da.
Und dann gibt es auch das Gegenteil. Es gibt auch diejenigen, die sich ihren Horizont einfach erhalten wollen. Es soll so bleiben, wie ich es gewohnt bin. Neue Erfahrungen oder Herausforderungen stören nur. Solche Leute muss ich dann eher ermutigen: Das Gebet ist mehr als nur diese oder jene Worte, die du immer sprichst. Die Heilige Messe ist auch dann noch die Heilige Messe, wenn sie gerade einmal nicht an einem bestimmten Ort oder zu einer bestimmten Uhrzeit stattfindet. Die Predigt eines anderen Predigers kann gut und aufbauend sein, auch wenn er andere Worte verwendet als die gewohnten. Es gibt sogar andere Lieder, die auch schön sind, obwohl sie nicht die sind, die wir sonst immer gesungen haben.
Sie wissen wovon ich spreche. Es ist für viele und für mich persönlich auch eine große Zumutung, wenn wir gerade einer ganze kirchliche Welt, die wir gut gekannt haben voraussichtlich einfach verschwinden wird. Die offene Frage ist ja: Wird unser Glaube auch mit ihr verschwinden?
Vor diesem Hintergrund klingt das Wort „Effata“ („öffne dich“), vielleicht eher wie eine Bedrohung. „Man muss sich für Neues öffnen“ ist tatsächlich auch eher ein Kalenderspruch. Man kann das niemandem befehlen. Dieses „Effata“ ist nur dann überzeugend, wenn es wie im Evangelium von Jesus selbst kommt, wenn damit eine Erfahrung verbunden ist, etwas, das uns ihm näher bringt. Das Neue ist nie gut, weil es neu ist. Das Neue ist nur gut, wenn in ihm auch etwas Gutes ist. Ohne etwas darin zu erfahren oder zu sehen, wird es uns nicht interessieren.
Es ist ein wenig wie mit den Bergen. Man kann mir von ihnen erzählen oder Bilder zeigen. Ich habe sie erst verstanden, als ich sie gesehen habe. Sie waren schön, aber auch schroff. Sie haben mir gleichzeitig Geborgenheit vermittelt, als auch Gefahr. Das Neue ist ein Wagnis. Es wird meinen Horizont weiten. Irgendwann werde ich darin zu Hause sein können.