Der Bericht von der Brotvermehrung (Joh 6,1-15) lässt sich gut von seinem Ende her deuten. Normalerweise dürften wir folgenden Schluss erwarten: „Die Leute aßen und wurden satt. Sie priesen Gott und gingen an diesem Tag erfüllt und glücklich nach Hause.“
Das Johannesevangelium endet die Erzählung allerdings anders: Nachdem die große Menge von den Broten gegessen hat, bleiben 12 Körbe übrig. Die Menschen erkennen daraufhin in Jesus einen Propheten. Jesus zieht sich von der Menge zurück, weil er befürchtet, dass sie ihn zum König machen möchten. Wie soll man diesen Schluss deuten?
Das Ende des Berichts enthält Anspielungen. Zum einen nimmt es Bezug auf eine Erzählung aus dem Zweiten Buch der Könige (2Kön 4, 42ff.): Ein Mann kommt zum Propheten Elischa und bringt ihm 20 Gerstenbrote. Elischa sagt ihm er solle das Brot an die versammelte Menge ausgeben. Der Mann fragt, dass diese Menge an Brot nicht für alle ausreichen wird. Doch dann geschieht das Wunder: Alle essen davon, werden satt
Und es bleibt noch Brot übrig. Die Menge, die bei Jesus versammelt ist, erkennt die Situation wieder. Wenn ein solches göttliches Zeichen geschieht, dann muss Jesus ein Prophet sein. Die zweite Anspielung bezieht sich möglicherweise auf das Erste Buch Samuel (1Sam 10,17-27): Der Prophet Samuel versammelt das Volk um sich. Er sagt, dass er sich dem Willen des Volkes beugt und einen König aus ihrer Mitte salben wird. Das Los wird geworfen. Es fällt auf Saul. Dieser ist aber nicht zu finden. Er hat sich versteckt und muss vom Volk mühsam wiedergefunden werden. Jesus handelt ebenso. Er verbirgt sich. Nach alter Tradition ist der König der Ernährer des Volkes. Wer also dafür sorgt, dass es genug Brot gibt, der soll auch herrschen.
Und dann sind da noch die zwölf Körbe mit Brot, die vom Mahl übriggeblieben sind. Zwölf ist die Zahl der Stämme Israels. Das Brot ist also nicht nur für die versammelte Menge, sondern für das ganze Volk bestimmt. Die Speisung des Volkes mit Brot ist eine Erinnerung an das Manna in der Wüste. Gott rettet das Volk vor dem Hunger. Im Buch Deuteronomium wird dieses Geschehen so gedeutet: Gott hat das Volk mit Manna gespeist, um es zu lehren, dass der Mensch nicht allein vom Brot, sondern vom Wort Gottes lebt (Dtn 8,3). Brot und Wort bzw. Weisung sind also austauschbar. Was Jesus die Menschen gelehrt hat ist so reich und ergiebig, dass es an das ganze Volk weitergeben werden soll.
Das Johannesevangelium nimmt also in der Erzählung von der Brotvermehrung ganze Traditionsstränge des Volkes Israels weiter und deutet sie auf Jesus Christus hin aus. Hier ist das wahre Wort Gottes, der Prophet, der wahre König des Volkes zu finden, auch, wenn er noch nicht offenbar geworden ist. Die alte Geschichte Israels ist weiter lebendig, aber sie erfährt Veränderungen. Mit den Jüngern und der Volksmenge soll ich mich fragen, wer dieser Jesus ist, der die Menge speist.
Das Evangelium möchte die Leser und Hörer anregen, die Tradition in neuem Licht zu verstehen und sie weiterzugeben. Es reicht mir, metaphorisch gesprochen, einen der zwölf Körbe zum eigenen Verzehr und zur Weitergabe aus dem Text heraus. Es geht also um einen Prozess des Verstehens, Bewahrens, Prüfens und Weiterreichens. Man könnte sagen, es handelt sich um den Prozess einer lebendigen Tradition.
An diesem Samstag (27.07.2024) wurde eine wichtige Entscheidung für unsere Stadt Schwerin getroffen. Die UNESCO hat das Schloss und einige historische Gebäude der Stadt als Weltkulturerbe anerkannt. Ein solcher Titel wird verliehen, wenn nachgewiesen werden kann, dass es sich um Stätten handelt, die herausragender Ausdruck einer bestimmten Zeitepoche der Geschichte sind. Das Weltkulturerbe soll uns Menschen helfen, unsere Geschichte und unsere Kultur zu verstehen und zu bewahren. Es geht also nicht darum, Orte auszuzeichnen, die einfach nur besonders schön und erhaltenswert sind. Wer in die Welterbeliste aufgenommen werden möchte, muss den festen Vorsatz haben, das Kulturgut für künftige Generationen möglichst original zu erhalten.
Der Fall „Schwerin“ ist ganz interessant. In das Weltkulturerbe wurden verschiedene historische Gebäude aufgenommen, die als typischer Ausdruck einer fürstlichen Herrschaft des 19. Jahrhunderts gelten, also einer spätfeudalen Gesellschaft. Neben dem Schloss gehören die fürstlichen Grablegen, die Regierungs- und Repräsentationsgebäude, aber auch die Stallungen und Bedienstetenhäuser bis hin zu den Hoflieferanten zum jetzt ausgezeichneten „Residenzensemble“.
Was hier ausgezeichnet wird, ist ein materielles Kulturerbe. Es geht um Gebäude als Denkmäler vergangener Zeiten. Man hat die Stätten der Fürstenherrschaft ausgezeichnet, nicht die Fürstenherrschaft selber. Das wäre das immaterielle Kulturerbe. Nicht das Feudalsystem Deutschlands um 1850 wird durch die UNESCO „geadelt“, sondern nur seine baulichen Relikte. Diese Unterscheidung ist wichtig. Sie ist wichtig für den Prozess der lebendigen Tradition.
Diese Unterscheidung ist eine beständige Herausforderung für die Kirche und für die christliche Tradition. Hier ist es andersherum. Nicht eine bestimmte historische Glaubensform, nicht eine bestimmte Theologie, nicht eine bestimmte kirchliche Epoche ist als ewiger Maßstab ausgezeichnet. Die Tradition verändert sich und wird immer wieder hinterfragt. Selbst die Heilige Schrift als zentrale Urkunde unseres Glaubens muss im Licht der Zeit immer wieder neu gelesen und ausgelegt werden. Die Tradition ist dabei als Lesehilfe wichtig. Sie muss beachtet und gepflegt werden, aber auch sie wird immer wieder neu gedeutet und bewertet. Das immaterielle Erbe des Christentums ist der Glaube, der sich immer wieder neu beleben und ausdrücken soll. Wir stehen in einer lebendigen Tradition, die das Alte als Korrektiv nimmt, als Versicherung, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Der Weg allerdings geht weiter.
Im Bild der Brotvermehrung gesprochen, begegnet uns Jesus nicht als historische Gestalt. Er reicht sich als lebendiges Wort und als lebendiges Brot (als das er sich im Anschluss an die Brotvermehrung im Johannesevangelium bezeichnen wird) gewissermaßen aus dem Text heraus. Es ist Brot übrig. Die Brotvermehrung geht weiter. Ich soll Jesus lesen und verstehen lernen, in eine lebendige Beziehung mit ihm treten. Das Evangelium ist keine alte Geschichte, sondern will gegenwärtig sein.