In meinem Urlaub war ich nach vielen Jahren einmal wieder in einem naturhistorischen Museum. Besonders eindrucksvoll war die Ausstellung zur prähistorischen Geschichte. Das Museum hatte eine stattliche Sammlung von Dinosaurierskeletten. Es gab einen ganzen Brontosaurier, einen Stegosaurier, einen Tyrannosaurus Rex und eine ganze Menge anderer Urechsen. Die meisten Funde stammten aus Nordamerika. Auf den Schildern, die die Skelette bezeichneten fand ich einen Hinweis, der mich stutzen ließ. Dort stand immer das Wort „compilation“ – Zusammenstellung. Die Skelette waren also aus verschiedenen Funden zusammengebaut worden. Fehlende Knochen waren durch Nachbildungen ergänzt.
Im Verlauf der Ausstellung wurde das erklärt. Man sah Fotos der Fundorte. Die Arbeit der Archäologen und Naturforscher wurde dargestellt. Man findet selten ein ganzes Skelett. Vielmehr sah man auf den Fotos meist Konvolute von teilweise versteinerten Knochen, manchmal auch nur Knochenreste. Die Knochen waren zudem häufig über weite Strecken verstreut zu finden. Es war die Arbeit der Forscher, die einzelnen Knochen aus dem Boden und Gestein herauszulösen und zu bestimmen. Man musste zuordnen, welcher Überrest zu welchem Tier gehört. Häufig geht es dabei auch nur um kleine Knöchelchen aus der Hand oder dem Fuß des Tieres. Alles wird dann fein säuberlich aufgereiht und aufgelistet. Ein riesiges Puzzle mit fehlenden Teilen. Der Weg zu einem ganzen Skelett, das dann im Museum aufgestellt werden kann, ist unendlich langwierig und mühsam. Wir sehen als Besucher das ganze Skelett und denken: „Wie beeindruckend“. Das eigentlich Beeindruckende, die viele Arbeit und das viele Wissen, das hinter dem fertigen Aufbau steht sehen wir nicht.

Wo steht Ihr heute, am Tag, an dem die Schule zu Ende geht? Einige werden aufs Zeugnis schauen und sagen: „Jetzt ist das große Werk vollbracht“. Tatsächlich ist das Abschlusszeugnis ja sowas wie das Ausstellungsstück für die Schulzeit. In ihm ist alles zusammengefasst, was ihr in 12 Jahren Schule gemacht habt. Euch wird damit attestiert, dass ihr jahrelang gelernt und für die Schule gearbeitet hat und es wird auch festgestellt, wie gut das gelungen ist. Zugleich ist das Zeugnis ja auch ein Erinnerungsstück an die Schulzeit. Es ruft noch einmal die ganze Geschichte auf, von der Einschulung in der ersten Klasse bis zum Abiball. Das wird ja am heutigen Tag noch ausführlich passieren: Ihr erzählt noch einmal eure Schulzeit, erinnert euch an die Klassengemeinschaft, an die Freunde und an die Lehrkräfte, an Klassenfahrten, Sportfeste, Partys, vielleicht auch unerfreuliche Ereignisse.
Man kann es auch anders sehen. Vielleicht ist das Abschlusszeugnis eher so etwas, wie ein wichtiges Puzzleteil, ein Hauptknochen im Dinosaurierskelett. Am Ende der Schulzeit habt Ihr sozusagen einen Teil der archäologischen Arbeit geleistet, die Knochen ausgegraben, bestimmt, gereinigt. Aber jetzt müsst ihr das ganze zusammensetzen. Ein riesiges Puzzle mit fehlenden Teilen. Jetzt müsst ihr daraus ein selbstständiges Leben bauen, von dem ihr einmal sagen wollt: „Wie beeindruckend – es ist gut gelungen.“ Diese Puzzlearbeit mutet man euch jetzt zu. Man traut sie euch auch zu. Über viele Jahre haben Eure Eltern, die Schule, Freunde und andere Personen investiert, Euch das nötige Handwerk zu vermitteln. Es geht natürlich um Wissen, es geht aber auch um Fähigkeiten und es geht um eine Persönlichkeit, die sich entwickeln hat und weiter entwickeln soll. Es geht darum, sich in der Welt bewegen zu können, es geht um die Fähigkeit, sich selbst etwas beibringen zu können, es geht um Werte und soziale Regeln, die ihr gelernt habt, es geht hoffentlich auch um einen Glauben, um eine Hoffnung, um eine Vorstellung von der Zukunft, um Ziele und Ideale. Es braucht so etwas wie eine Vorstellung vom Leben, die sich herausbildet, immer wieder verändert, aber euch leiten kann, das große Puzzle zusammenbauen zu können.
Ihr habt für den heutigen Abschlussgottesdienst das Evangelium von den Jüngern gewählt, die nach Emmaus gehen. Die beiden haben vom Tod Jesu in Jerusalem gehört und davon, dass erzählt wird, dass das Grab leer gefunden wurde. Sie stehen vor einem Rätsel: Wie passt das, was sie von Jesus wissen zusammen? Jesus geht als Unbekannter mit ihnen. Er verweist auf die Schriften Israels, in denen über den Messias gesprochen wird. Als sie in Emmaus sind und Jesus mit ihnen das Brot bricht, kommt der große Moment. Auf einmal verstehen sie, wie alles zusammengehört. Es erschließt sich ihnen ein Bild. Alles ergibt Sinn. Die alten Weissagungen und dass, was geschehen ist gehören zusammen. Gott macht die Verheißungen wahr. Der Messias ist gekommen und er hat das vorhergesagte Schicksal erlitten und dann den Tod besiegt. Hier entsteht ein neues Weltbild. Aus den einzelnen Versatzstücken fügt sich ein großes Ganzes zusammen. Die Jünger wissen jetzt, was sie glauben und hoffen dürfen.
Darum geht es- die Teile zusammenzufügen, klar zu sehen. Stück für Stück wird sich die Gestalt Eures Lebens weiter herausarbeiten und irgendwann kann man sie erkennen. Von Gott sagen wir, dass er uns zu einem Leben in Fülle führen will. Damit ist ein Leben gemeint, dass eine Gestalt hat, eine Persönlichkeit, ein festes Fundament, ein Leben, dass sich nicht entmutigen lässt, das innere, starke Antriebskräfte hat. Dies Aussage gläubiger Menschen ist: Neben mir steht ein Mastermind, eins das ich vielleicht nicht immer als solches erkenne, aber eins, auf das ich mich verlassen kann.

Es geht also weiter. Mit der Schule ist diese Aufgabe nicht zu Ende. Die Schule ist ein Teil davon. Viele Teile liegen vor Euch, viele Erfahrungen habt ihr bereits gemacht. Viele Seiten von Euch kennt ihr bereits, andere warten darauf, noch entdeckt zu werden. Das Puzzle ist noch längst nicht vollständig. Das werdet ihr schnell merken. Es ist ein eigenartiges Gefühl, von zu Hause auszuziehen. Es ist eine Herausforderung, sich ohne die beständige Aufsicht von anderen selbst zu organisieren. Es braucht Zeit, etwa einmal die erste Steuerklärung seines Lebens zu machen oder die ersten Prüfungen an einer Universität zu erleben. Bei solchen Sachen kann man leicht erstmal scheitern. Es passt nicht alles gleich zusammen. Aber trotzdem lohnt es sich. Was vor euch liegt, kann sehr schön sein. Ich brauche mich davor nicht wegducken. Ich kann das. Und ich bin dabei nie allein.