Das Wüten der Welt

„Wasser hat keine Balken“, sagen wir und meinen damit, dass Wasser mit Respekt und Vorsicht zu behandeln ist. Wer sich dem Wasser aussetzt braucht Respekt für dieses Element. Wasser lässt sich nicht vollständig beherrschen, ebenso wenig übrigens wie Luft. Deshalb betreten viele von uns ein Schiff oder ein Flugzeug mit leisem Unbehagen oder größerer Anspannung als etwa ein Auto oder den Zug. Der Hinweis auf die hohe Sicherheit des Reisens zu Wasser oder Luft kann uns nicht völlig beruhigen, denn die Elemente, in denen wir uns bewegen sind bei aller Tragfähigkeit nicht vollends beherrschbar. In ihnen schlummert ein chaotisches Moment, der unter gewissen Bedingungen zum Ausbruch kommen kann. Wasser und Luft brauchen nur einen kleinen Impuls, um sich gegen uns zu wenden und zur Bedrohung zu werden. Das weiß jeder, der mit einem Flugzeug schon einmal in Turbulenzen gekommen ist, oder sich beim Schwimmen im Meer zu weit nach draußen gewagt hat oder in einem Ruderboot durch die Strömung vom Kurs abgetrieben wurde.

Diese Erfahrung macht besonders, wer, eben wir die Jünger im Evangelium, mit seinem Boot in einen Sturm gerät. Der Wind, der sonst das Segelboot vorwärts treibt, bringt es im Sturm fast zum Kentern und wühlt das Wasser, das eben noch tragendes Element des Bootes gewesen ist zu hohen Wellen auf, die das Boot bedrohlich hin und her werfen. Das Wasser tritt aus seinen geordneten Bahnen, schwappt in das Boot und droht, es in die Tiefe zu reißen. Dem Wüten der Elemente sehen sich die Jünger schutzlos ausgeliefert.

„Das Wüten der ganzen Welt“ heißt ein Roman des niederländischen Autors Marten ‚t Haart, der die Geschichte einer solchen Bedrohung erzählt. Der Held des Buches, Alexander, wird als Jugendlicher Zeuge eines Mordes. Als einziger hat er den Mörder gesehen, wenn auch nur kurz. Seit diesem Augenblick lebt er in der Angst, der Mörder könne ihn als einzigen Zeugen nun auch töten wollen. Er setzt also alles daran, den Mörder zu finden, um Ruhe für seine Seele bekommen zu können und stößt bei seinen Nachforschungen auf viele verwirrende Spuren. Er erkennt mit der Zeit, wie sehr er verstrickt ist in eine unheilvolle und bedrohliche Geschichte, die alle Menschen um ihn herum mit einbezieht. Was er auch unternimmt, immer wieder holt ihn diese Geschichte ein und lässt ihn nicht zur Ruhe kommen. Er stößt auf die Spuren der Vergangenheit, auf eine Geschichte von Angst und Vertreibung, einer misslungenen Flucht, von Verrat, Tod, verzweifelter Liebe, gefährlicher Leidenschaften, Selbstmord und Rache. Er lernt die schlechten Gewissen und das eiserne Schweigen, ein geheimes Komplott und die menschlichen Abgründe um ihn herum kennen.

In der Schlüsselstelle des Romans begleitet Alexander, der ein guter Pianist ist seine zukünftige Frau bei einem Lied auf dem Klavier. Sie singt den Text eines französischen Gedichtes: „Zu zweit am Ufer des Baches sitzen, der fließt, ihn fließen sehen, ihn murmeln hören, nicht spüren die Dauer der Zeit, doch hingegeben der einzig tiefen Leidenschaft, sich anzubeten ohne Rücksicht auf das Wüten der Welt und empfinden, wie die Liebe in mitten von Vergänglichkeit nicht vergeht.“

In diesem Augenblick wird Alexander klar, das hier seine tiefste Sehnsucht zum Ausdruck kommt: unbeschadet zu sein von all dem Unheilvollen um ihn herum, den Lauf der Welt, das Drängende und Bedrängende, das ihn im Leben so ruhelos macht und ihn mit Angst erfüllt.- Und er erinnert sich an einen der wenigen glücklichen Momente seiner Kindheit, an der er ganz für sich, die Welt drumherum vergessend am Bach gesessen und geangelt hat. Hier war er ganz für sich gewesen, herausgenommen aus der großen Geschichte, unbeschadet von diesem Wüten der Welt.

Wenn Sie sich fragen, wieso Jesus während des Wütens um ihn herum ruhig im Boot schlafen konnte, haben sie hier die Antwort: Er sah in diesem Moment nicht gefährdet, er war in tiefer Sicherheit bei sich selbst. Es kann ihm innerlich nichts anhaben wenn die Welt um ihn tobt. Und so reagiert er ärgerlich auf die Panik der Jünger und ihren Kampf gegen Wasser und Wind: „Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben?“ Anders gewendet: Konntet ihr tatsächlich vermuten, ihr würdet zugrunde gehen, während ich bei euch bin?

Ist es möglich, dass Jesu recht hat? Die Jünger haben mit einer realen Bedrohung zu tun, wie sie mir selbst in diesem Wüten der Welt begegnen, das mich umgibt mit seinen schlechten Nachrichten, mit seinen Ängsten, die mich überfallen, den Verwicklungen und Verwerfungen meiner Lebensgeschichte mit denen ich versuche, fertig zu werden, mit der Sorge um die nahstehenden Menschen und den alltäglichen Schrecklichkeiten und Hindernissen. Der Glaube allein schafft sie nicht aus der Welt, nach dem Beten hat sich scheinbar nichts verändert. Gibt es also einen Unterschied zwischen einem Ungläubigen und einem Gläubigen? Die Frage müssten Sie zunächst für sich beantworten, wie auch ich es nur für mich kann.

Und in meiner Antwort ist der Glaube ein ständiges Zurückkehren an einen solchen Ort, wie diesen Bach, an dem Alexander sitzt. Er ist eine Selbstvergewisserung über das Geheimnis Gottes, der mich in seiner Liebe hält und herausnimmt aus der Not und dem Wüten der Welt. Der Glaube ist eine Beziehung die mich fest verankert im Sturm und den Wellen die mich aufwühlen und ängstigen mir aber im Tiefsten nichts anhaben können.

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