Gottes- und Nächstenliebe

Jedes Jahr findet zwischen Himmelfahrt und Pfingsten die Gebetswoche für die Einheit der Christen statt. In Mecklenburg wird aus diesem Anlass ein Ökumenischer Studientag organisiert, zu dem Geistliche und Pastorale Mitarbeiter verschiedener Konfessionen eingeladen werden. In diesem Jahr befasst sich der Studientag mit der Mitgliederstudie, die im Frühjahr veröffentlicht wurde. Der folgende Text dokumentiert die Predigt bei gemeinsamen Gottesdienst.

Unser Ökumenischer Studientag findet wie jedes Jahr in der Gebetswoche für die Einheit der Christen statt. Die internationale Vorbereitungsgruppe hat für den Gottesdienst das zentrale Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe als biblisches Leitwort ausgewählt. Es verbindet sich im Lukasevangelium mit dem Gleichnis vom Barmherzigen Samariter. Das Gleichnis selbst ist ja so gut und eindrücklich, dass man es fast nicht mehr zu kommentieren braucht. Ich vermute, die meisten von uns haben schon häufig darüber gepredigt oder in Bibel- und Gesprächsrunden darüber gesprochen.

Ich möchte daher angesichts der Gebetswoche danach fragen, was es uns als Kirchen, als Gemeinschaft des Volkes Gottes zu sagen hat. Dies erfolgt natürlich vor dem Hintergrund der Situation, in der wir uns kirchlich befinden. Wir haben heute Vormittag davon gehört. Die Ergebnisse der Mitgliederstudie machen wenig Mut. Sie zeigen, was wir aus der Praxis häufig längst wissen: Der Glaube verdunstet. Für immer weniger Menschen in Deutschland hat das Christentum eine lebensprägende Bedeutung. Auch die noch vorhandenen Reserven an kultureller oder familiärer Praxis, vom Weihnachtsgottesdienst, der Teilnahme an Konfirmation oder Firmung bis zur Verbreitung traditioneller Kirchenlieder werden geringer. Unser kulturelles Gedächtnis zeigt Erscheinungen von Demenz. Die religiöse oder auch philosophische Heimatlosigkeit wird größer oder flüchtet sich in ideologische und abergläubische Reservate mit ungeahntem Gefährdungspotential für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Welche Rolle kann da die auch institutionell schrumpfende Kirche noch spielen?

Das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter hat durch Origenes (184-253), einen der großen frühen Theologen eine interessante Auslegung erfahren.[1] Origenes beginnt mit dem ersten Satz des Gleichnisses: „Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab“. Dieser „Mann“ steht allegorisch für „Adam“ und in ihm für den Menschen insgesamt. Jerusalem auf der Höhe ist der Ort des Paradieses und der Zielort des Menschen in der späteren himmlischen Herrlichkeit. Aus seinem ursprünglich guten und heilen Bestimmungsort gerät der Mensch durch eigenen Ungehorsam in eine schwierige Situation. Er steigt nach Jericho hinab. Diesen Ort deutet Origenes dann als den Kosmos, also die unübersichtliche, gefährliche und bedrohte Welt. Kein Wunder, dass der absteigende Mensch auf diesem Weg unter die Räuber fällt, also von bösen Mächten, Anfechtungen, falschen Lehren überwältigt wird, die seine ursprüngliche Natur auf das Gröblichste verletzen und entstellen. Aus diesem Zustand können den Menschen weder das Gesetz, in der Allegorie der vorbeigehende Priester, noch die Prophetie (der Levit) retten. Der Samariter ist in der Auslegung des Origenes Christus selbst. Dieser hilft dem gefallenen Menschen durch die göttlichen Hilfsmittel, das Altarsakrament (das Lasttier), das Wort der Lehre (der Wein) und das mitleidende Erbarmen (das Öl). Der Samariter bringt den Menschen in die Herberge. Diese Herberge ist bei Origenes das Bild für die Kirche, wo die Versehrten gepflegt werden und gesund werden können, bis der Samariter einmal wiederkommt.

Im Grunde erkennt Origenes im Gleichnis die paulinische Theologie der Erlösung wider, gibt ihr zudem einen ekklesiologischen Sinn. Der Weg Jesu ist der Weg der Heilung und Versöhnung der sündhaft gefallenen Menschheit. Er hinterlässt zu diesem Werk die entsprechenden geistlichen Hilfsmittel, die in seinem Auftrag durch die Kirche verwaltet und angewendet werden sollen. Die Kirche als Herberge der Versehrten, als Hospital.

Papst Franziskus spricht ganz ähnlich von der Kirche als „Feldlazarett“. Dieses Lazarett ist eine mobile Krankenstation, wohin die Verwundeten des Krieges oder einer Katastrophe gebracht werden. Hier geht es um schnelle medizinische Entscheidungen, um eine Notversorgung, die nicht zimperlich ist, weil sie unter Zeitdruck stattfindet. Das Ziel ist es, die Verwundeten zu retten, auch wenn dafür drastische Sofortmaßnahmen notwendig wären.

Wieder ein drastisches Bild. Viele werden sich fragen, ob man unseren oft so unspektakulären Alltag wirklich als Kampf begreifen muss. Dass es aber die Verwundungen gibt, die versorgt werden müssen, daran sollte kein Zweifel bestehen. Wir kennen diese Verwundungen der Seele, der Beziehung, der Familie, des sozialen Gefüges: Feindschaft, Unversöhntheit, Untreue, Lüge und Betrug, Grenzüberschreitungen, Beleidigungen, Bedrohungen, Gewalt, Missbrauch, aber auch Sucht oder Trauer. Wie sollen diese Wunden im Feldlazarett behandelt werden?

Jetzt werden Sie vielleicht sagen: Das alles machen wir doch. Seelsorge ist doch unser täglich Brot. Wir haben doch zudem die Einrichtungen und Dienste, die sich in besonderer Weise um Menschen mit den verschiedensten Nöten und Bedürfnissen kümmern. Das ist richtig. Es ist aber mit Blick auf die Zukunft der schrumpfenden Kirche aus meiner Sicht etwas zu wenig, das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter einseitig im Sinne einer allgemein Menschlichen Nächstenliebe aufzulösen. Schließlich haben wir es mit der Beachtung des Doppelgebotes zu tun, das Gottes- und Nächstenliebe zusammenführt. Die Sinnspitze der Auslegung des Origenes und auch der Aussagen von Papst Franziskus liegt ja darin, dass es um die Nächstenliebe geht, die mit den Mitteln des geistlichen Schatzes als Werkzeug arbeitet. Ich glaube, dass dies für die Zukunft sehr wichtig sein wird.

Vor zwei Wochen konnte ich an einem großen Glaubenskongress teilnehmen. Das war eine Veranstaltung mit viel evangelikaler Power. Ich muss gestehen, dass meine charismatische Ader eher unausgeprägt ist. Trotzdem gab es einige wertvolle Anregungen. Eine davon stammte von Tom Holland. Er ist zur Zeit der vielleicht populärste Historiker Englands und hat zahlreiche Bücher zur Antike und zum Christentum geschrieben. Im Interview sagte er, dass er persönlich kein Christ sei, sondern eher Agnostiker. Trotzdem wurde er gefragt, was er den Kirchen heute denn empfehlen würde. Er sagte darauf sinngemäß: „Konzentriert euch auf eure eigenen Wurzeln und Schätze“. Es mache aus seiner Sicht keinen Sinn, wenn die Menschen von Kirchenvertretern einfach nur das hören würden, was sie von den Politikern und anderen gesellschaftlichen Vertretern auch hören. Die Kirche braucht die gesellschaftlichen Botschaften nicht immer zu verdoppeln, so wichtig sie auch sein würden. Stattdessen, so Holland, sollten wir Wert darauf legen, mit den Menschen die Bibel zu lesen. Und wir sollten uns nicht scheuen, all die bunten Dinge unserer Glaubenstraditionen ins Schaufenster zu stellen, die christlichen Bilder und Symbole, die Sakramente, die Heiligen, auch die scheinbaren Kuriositäten. Die Kirche habe aus ihrer Tradition so viel eigenes anzubieten, dass sie eine echte Alternative zu den anderen gesellschaftlichen Mitspielern sein könnte. Sie müsste sich nur trauen, auch von ihrem Glauben her explizit und profiliert zu sein.

Ich glaube, daran ist viel Wahres. Was ist die Zukunft, auf die wir zugehen? Wir sehen die Zeichen einer Gesellschaft, die immer weniger Orientierung hat, aber zugleich Orientierung sucht. Wir sehen die Zeichen einer Gesellschaft, deren Wohlstand abnehmen wird, die in größere soziale Krisen geraten wird. Was wir heute als Fachkräftemangel etwa in Gesundheit und Pflege sehen, ist erst der Anfang. Pflege wird rar und teuer werden. Zugleich wird die Gesellschaft heterogener. In den nachwachsenden Generationen sind die migrantischen Milieus überproportional groß. Das, was einige als „deutsche Leitkultur“ verstanden haben möchten, wird ganz neu ausgehandelt. Gleichzeitig nehmen die Spannungen an den ideologischen Rändern zu, auch die sozialen Spannungen. Die nächsten Jahrzehnte werden anstrengend. Und mittendrin sind die Kirchen als nur noch kleine Gemeinschaften. Die Menschen werden sie suchen, wenn sie nach alternativen Orten suchen, an denen sie andocken möchten. An Orten, die sich noch etwas von der alten Weisheit einer langen europäischen Geschichte bewahrt haben. Die Versehrten und Verletzten suchen das Gasthaus oder das Lazarett auf. Sie werden ganz bewusst dahin kommen. Die aktuellen Erfahrungen aus Schweden oder Frankreich scheinen zu zeigen, dass auch das steigende Maß der Säkularität irgendwann einen Kipppunkt erreicht, an dem zumindest bei einigen das Bedürfnis nach einer festen Bindung im Glauben wieder steigt.

Die Frage an uns ist nur, ob wir bereit sind, diesen Glauben auch noch zu verkünden, den Mut haben explizit zu sein und das geistliche Instrumentarium voll auszuspielen, das uns gegeben ist. Wir kommen aus einer Phase, in der wir (so mein Eindruck) das Geistliche eher etwas versteckt haben aus Angst, sonst für den durchsäkularisierten Zeitgenossen nicht anknüpfungsfähig zu sein. Die Realität zeigt, dass diese Anknüpfungsbereitschaft offenbar keine feste Bindung erzeugt. Vielleicht haben wir auch einfach zu viel Angst gehabt, ausgelacht zu werden, wenn wir noch mit Ernst und Überzeugung von den Inhalten des Glaubens und der Bibel gesprochen haben. Nun ja, wir werden trotzdem ausgelacht.

Was muss ich tun, um das ewige Leben zu erlangen? – Das ist die Frage, die Jesus zu Beginn des Evangelienabschnitts gestellt wird. Die Antwort darauf gibt dann das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe. Es scheint mir so zu sein, dass die Nächstenliebe ein Resultat der Gottesliebe ist. Ich denke, es ist richtig, darauf zu achten, dass uns der erste Teil des Doppelgebotes nicht wegrutscht. Als Kirchen ist hier unsere gemeinsame Basis. Wo sich die Kirche als Gasthaus oder Lazarett erweisen kann, in dem Heilung und Versöhnung geschieht, wird man auch in Zukunft auf sie zukommen. Und im Zweifelsfall ist es dem Verletzten dann übrigens gleichgültig, ob die Krankenschwester katholisch oder evangelisch ist. Ihr Gotteskompetenz wird den Ausschlag geben.       


[1] Ich beziehe mich auf: Origenes, Geist und Feuer (Textsammlung), Freiburg 1991, 151f.

Ein Kommentar zu „Gottes- und Nächstenliebe

  1. Werter Pastor Bergner, was Sie hier schreiben halte ich für eine glatte Fehlinterpretation. Es sind im Jahr 2023 über 400.000 Katholiken aus der katholischen Kirche ausgetreten und es wird so weiter gehen, wenn man weiter die Ursachen tabuisiert. Die Gründe liegen in der Führungsebene der katholischen Kirche, von der Bischof-Ebene bis zur Kardinal-Ebene. Wir Katholiken in Deutschland haben keine Kirche mehr. Wer das Wort Gottes berücksichtigen will, so sehe ich es, wer sich an Jesus orientiert, wer christliche Werte, die Sie sehr schön theoretisch erklären können, lebt, muss aus dieser Kirche austreten. Als Katholik, so sehe ich es, hat man keine andere Wahl mehr. Brauchen wir einen Martin Luther, der diese Kirche spaltet, in jenen Teil der von Leuten wie Reinhard Marx, Stefan Hesse oder Stephan Ackermann vertreten wird? Was haben diese Leute aus der katholischen Kirche gemacht? Und jenen Teil der Spaltung, der wieder eine richtige katholische Kirche beinhaltet, an der Lehre Gottes orientiert. Es gibt gar keine Ideologisierung an irgendwelchen Rändern. Es gibt eine Ideologisierung und Radikalisierung innerhalb der katholischen Kirche. In der evangelischen Kirche sehe ich Hoffnungsschimmer am Horizont, an der Basis. Da wären die „Sanitzer Thesen“ (hierzu Tichys Einblick, welches sich übrigens auch sehr mit der katholischen Kirche beschäftigt: Achijah Zorn, „Die evangelische Kirche hat Schuld auf sich geladen“, 29. April 2023). Dieses Schuldeingeständnis finde ich auch im aktuellen Gemeindebrief der evangelischen Kirche. Und, es hat eine Buchbesprechung geben in einer evangelischen Gemeinde in MV, wo Ex-SPD Minister Mathias Brodkorb sein aktuelles Buch präsentierte, also, eine Abkehr von der Mär vermeintlicher Ideologisierungen an irgendwelchen Rändern, irgendwelcher Brandmauern, um den Andern zu erniedrigen und sich selbst damit zu erhöhen. Zumindest an der evangelischen Basis reichen Theologen die Hand zur Versöhnung. Als Christ nehme ich das wahr und nehme die Hand dankbar an. Warum sollten diese wichtigen Entwicklungen nicht in der katholischen Kirche möglich sein? Im ersten Schritt halte ich es für elementar wichtig, auch in Deutschland die Trennung von Staat und Kirche zu vollziehen. Das Reichskonkordat von 1933 muss gelöst werden. Denn der Pakt mit dem Teufel, und das sagt uns auch schon Goethes Faust, führt zwangsläufig ins Verderben. Ich schreibe als Christ, als Katholikin einen sehr langen Brief an die Caritas in Bezug zum letzten Sozialcourage-Heft der Caritas. Denn hier erkennt man sehr viel. Dieses Schreiben werde ich auch dem Bistum Hamburg, dem Bistum Trier und Kardinal Marx zusenden. Es wird noch dauern, denn ich muss jedes Wort überprüfen, jede Aussage belegen. Es ist sehr „gefährlich“ geworden, sich mit solchen Leuten in Verbindung zu setzen. So Gott will, wird dieses Schreiben irgendwann einmal fertig. Ich gebe es Ihnen zur Kenntnis, werter Pastor Bergner. So kann es in der katholischen Kirche einfach nicht mehr weiter gehen. Meine Meinung.

    Like

Hinterlasse einen Kommentar