Portrait eines Unbekannten

„Diese Zeichen sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Messias ist, der Sohn Gottes, damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen“ (Joh 20,31). Mit diesem Satz endet das Evangelium von der Erscheinung des auferstandenen Jesus bei seinen Jüngern und der Begegnung mit dem „ungläubigen“ Thomas. Der Evangelist Johannes gibt uns also seine Absichten preis, die er mit dem Schreiben des Evangeliums gehabt hat. Johannes hat ein Buch verfasst, dass uns, die Leser, zum Glauben führen soll.

Stellen wir uns vor, wie der Evangelist von den Fragen der Menschen um ihn bedrängt wurde: „Du glaubst an Jesus Christus? – Wie kannst du dir über ihn sicher sein? Was hat er wirklich getan? Wer ist dieser Jesus, von dem du sagst, dass er von Gott gekommen ist, in seiner Auferstehung den Tod besiegt hat und zu Gott zurückkehrt?“

Die Fragen sind über die Jahrhunderte die gleichen geblieben. Wir haben Jesus nicht persönlich gekannt. Wir sind anders als die Jünger keine Zeugen der Auferstehung. Johannes gibt uns mit der Erzählung vom Apostel Thomas ein Lehrbeispiel. Hier war einer, der die Auferstehung nicht glauben wollte. Und doch hat ihn eine Begegnung mit Jesus Christus bekehrt. Er ist zum Glauben gekommen. Kann uns das auch passieren? Ist es möglich, zum Glauben zu kommen, wenn uns diese Begegnung fehlt? Wir haben ja nicht viel mehr, als die Schrift, die uns von der Auferstehung erzählt. Zur Zeit des Johannes mag es noch Augenzeugen gegeben haben. Können wir ihnen wirklich vertrauen? Ist ein Evangelium, eine Glaubensschrift wirklich vertrauenswürdig? Stellt es überhaupt den „wirklichen Jesus“ dar, oder ist das Zeugnis über ihn nicht verfälscht oder übermalt?

Alessandro Baricco, ein überaus lesenswerter italienischer Schriftsteller, hat vor gut 10 Jahren einen Roman geschrieben mit dem Titel „Mr. Gwyn“. In ihm geht es um einen Schriftsteller, eben Mr. Gwyn, der eines Tages beginnt, sein Leben auf den Kopf zu stellen. Er fasst, sehr zum Missfallen seines Verlegers, den Beschluss, keine Geschichten oder Romane mehr zu schreiben. Mr. Gwyn hat gemerkt, dass er den wirklichen Menschen durch seine Schriften nicht wirklich näher kommt. Was er bisher mit seinen Romanfiguren geschaffen hat, sind im Grunde nur Abziehbilder von wirklichen Menschen. Mr. Gwyn entwirft einen Plan. Er mietet ein Atelier, einen kahlen Raum. Er stattet ihn mit einer einzigartigen Beleuchtung aus und lässt sich für den Raum eine bestimmte Musik schreiben. Er möchte den Raum für Beobachtungen nutzen. Als nächstes heuert ein Modell an, um eine neu erdachte Schreibmethode auszuprobieren. Das Modell ist eine Frau namens Rebecca. Der Schriftsteller gibt Rebecca ein paar Regeln. Sie soll 30 Tage lang jeden Tag für vier Stunden in das Atelier kommen. Mr. Gwyn wird sie beobachten. Er wird ihr keine Fragen stellen. Es wird nicht gesprochen. Rebecca soll einfach da sein. Nach den dreißig Tagen schreibt Mr. Gwyn ein Portrait von Rebecca. Es ist nicht lang, nur einige Seiten. Als sie es liest, trifft sie der Text bis ins Mark. Mr. Gwyn hat die Wahrheit über sie aufgeschrieben, Dinge, die sie selbst kaum über sich gewusst hat, die hier aber in Klarheit und Reinheit vor ihr auf dem Papier stehen.

Der Autor, Alessandro Baricco stellt hier eine kühne Behauptung auf: Die Wahrheit lässt sich allein durch Betrachtung herausfinden. Gerade dann, wenn sich der beschriebene Mensch allem entzieht, was seine Selbstdeutung wäre; wenn er keine Möglichkeiten hat, sein Bild selbst zu beeinflussen, lässt sich sein wahres Wesen am genauesten erfassen. Der Text ist in gewisser Weise wahrer, als es die Begegnung mit der realen Person ist.

Ich glaube, wir haben es im Evangelium mit einem ähnlichen Vorgang zu tun. Auch in ihm kommt die Wahrheit aus der Betrachtung. Es ist eine alte Tradition, die im Christentum später weitergeführt wird. Es ist die Tradition der Ikone. Die Ikone zeigt die Gestalt Jesu. Sie ist kein historisch exaktes Dokument, kein Passfoto. Sie zeigt die Gestalt des Auferstandenen, des verherrlichten Christus. Die Betrachtung der Ikone hat den gleichen Wert für den Glauben, wie das geschriebene oder gesprochene Wort. Sie vermittelt Wahrheit. Das Betrachten Jesu erschließt dem Betrachter das Wesen Jesu. Man kommt über das Schauen zum Glauben, über die Meditation. Das ist ein langer und anspruchsvoller Vorgang. Aber er ist offenbarend. Er deckt das verborgene Geheimnis Jesu auf. Er nimmt den Betrachter in die Kommunikation mit Jesus hinein.

In dieser Weise können wir den Text des Johannesevangeliums als Resultat einer solchen Betrachtung verstehen. Er sagt wahrscheinlich mehr über die Wahrheit Jesu aus, als es eine persönliche Begegnung vermocht hätte. Im Johannesevangelium ist gerade die persönliche Begegnung der Menschen mit dem historischen Jesus immer konfliktreich. An ihm scheiden sich die Geister. Jesus wird stets angefragt und muss sich in langen Reden erklären. Sein Geheimnis entbirgt sich nur langsam und wenigen und selbst die sind voller Anfragen und Missverständnisse. Erst im Auferstandenen sehen sie Jesus „rein“, als offenbartes Bild seiner selbst. Hier leuchtet seine verherrlichte Gestalt unter ihnen auf, die in seinem irdischen Leben verborgen immer schon da war. Jesus erscheint ihnen in der Logik der Ikone, die es zu betrachten gilt. Johannes übergibt uns sein Portrait, damit auch wir betrachten können. Erst so wird sich die Wahrheit erschließen.  

Beitragsbild: Ehemalige Lehrwerkstatt im Bauhaus Dessau

2 Kommentare zu „Portrait eines Unbekannten

Hinterlasse einen Kommentar