Gottes bunter Garten [zu Allerheiligen]

Normalerweise geben sich die Prediger am Allerheiligenfest berechtigterweise große Mühe, zu betonen, dass es sich bei der „Heiligkeit“ um eine gemeinsame Berufung aller Christen handelt. In der Messe von Allerheiligen werden die Seligpreisungen aus dem Matthäusevangelium gelesen. Sie verweisen auf das Wohlgefallen Gottes, das gerade die Bedrängten, Traurigen und Notleidenden erfahren.

Ich möchte heute einmal einen Blick auf diejenigen werfen, die als Heilige in der Kirche verehrt werden. Die Frage ist ja, welche Maßstäbe vergangenen Generationen wichtig waren, um ein heiligenmäßiges Leben eines Menschen festzustellen. Die Kriterien haben sich im Lauf der Zeit gewandelt, auch die Frömmigkeitsstile und -praktiken. In die Welt der Heiligen einzutreten ist daher faszinierend, zuweilen auch verstörend. Wir sehen uns umgeben von einer riesigen Zahl von Lebenszeugnissen, die so vielfältig wie das Leben und die Geschichte sind. Es ist ein Eintritt in Gottes bunten Garten, der neben vertrautem auch manche exotische Pflanze aufweist, die wir nur schwer deuten können.

Ich möchte daher erzählen von einer gewissen Fremderfahrung, die ich in diesem Sommer machen konnte. Im Urlaub besuchte ich die Kathedrale von Saint-Omer im Norden Frankreichs, nahe der belgischen Grenze. Es ist eine große, beeindruckende gotische Basilika, die sich mitten über einer uns eher unbekannten Kleinstadt erhebt. Benannt ist die Kirche nach dem Heiligen Audemar (verdeutscht „Otmar“), einem fränkischen Missionar des 7. Jahrhunderts, der hier an den Grenzen des fränkischen Reichs mehrere Klöster geründet hat. Sein Leben als Heiliger ist noch eher typisch: Ordensleben, Mission, Klostergründungen, eine persönliche Heiligkeit und Askese, ein Gründervater, an den man sich schon aufgrund seines Werkes noch lange erinnert, etwa ähnlich dem Heiligen Ansgar, dessen Ursprungskloster Corbie knapp 150 Kilometer von dem des Audemar entfernt ist.

Nachdem ich das Grabmal des Audemar gesehen hatte, fiel mein Blick auf einen steinernen Sarkophag, der am Eingang zum Chorraum aufgestellt war. Es handelte sich um das Grab des Heiligen Erkembod. Auch er war ein Mönch. Über sein Leben ist wenig bekannt, nur, dass er auf seinen Missionsreisen lange Strecken zurücklegte. Er war ein „Wanderer Gottes“ und wurde im frühen Mittelalter wegen seines Pilgerdaseins stark verehrt. Die Pilger, die von Santiago, Jerusalem oder Rom kamen, legten ihre Schuhe am Grab des Heiligen nieder. Später wurde er zum Fürsprecher für Eltern, deren Kinder aufgrund von körperlichen Behinderungen nicht laufen konnten. Und noch heute ist sein Sarkophag mit kleinen Schuhen übersät. Es sind die Schuhe, in denen Kinder ihre ersten Schritte gemacht haben. Sie werden als Dank für das gesunde Aufwachsen der Kinder dorthin gebracht.

In einer Seitenkapelle der Kirche erinnerte man Joseph Copertino. Dieser Franziskaner des 17. Jahrhunderts wurde lange Zeit in ähnlicher Intensität wie Padre Pio verehrt. Er war ein großer Mystiker und Wunderheiler, zu dem die Menschen pilgerten. Die bekannteste Legende besagt, dass Joseph in Verzückung 60 Meter vom Boden erhoben wurde und aus dem Himmel ein großes Kreuz empfing. In Italien gilt er seitdem als Patron der Flieger.

Daneben wurde in der Basilika von Saint Omer an einem Altar Benoit Joseph Labre verehrt. Man hat ihm den Beinamen „Vagabund Gottes“ gegeben. Benoit hatte als 18jähriger den glühenden Wunsch, Priester zu werden. Doch er war ein schlechter Schüler. In mehreren Versuchen bemühte er sich um Aufnahme in verschiedene Klöster, wurde aber entweder abgewiesen oder floh nach einiger Zeit wieder von dort. Er machte sich auf den Weg nach Rom und lebte dort sieben Jahre als Bettler auf der Straße. Sein Wunsch nach dem Priestertum blieb unerfüllt. Er starb auf den Stufen der Kirche von Santa Maria ai Monti und wurde mit großer Beteiligung der römischen Bevölkerung beigesetzt. Nach seinem Tod wurden 136 Heilungswunder anerkannt, die er zu Lebzeiten gewirkt haben soll.

Womit haben wir es hier zu tun? Mit Skurrilitäten? Einem außenstehenden Betrachter mag es so erscheinen. Aber, so kann man fragen, entspricht es nicht der Logik der Seligpreisungen, dass die Gnade Gottes an den randständigen und ungewöhnlichen Orten aufscheint? Die Heiligkeit kennt offenbar keine geringen Menschen, sondern nur solche, an denen die Gottesliebe groß wird, so gewaltig, dass sie mit unseren Maßstäben schwer einzuordnen sind. Der Theologe Hans Urs von Balthasar hat unter anderem vom Typus des „Narren Gottes“ gesprochen, einer Gestalt, die ganz aus der Logik der Welt herausfällt und von ihr zunächst einmal nur Verwunderung und Spott erfährt. Diese Heiligen sind keine Vorbilder in dem Sinn, als dass man ihr Leben nachahmen könnte oder wollte. Sie sind Begegnungsorte mit der unausschöpflichen Gegenwart Gottes, die zuweilen über unser Verstehen hinausragt. Das ist der Kern der Heiligkeit, die Berührung und damit auch Formung eines Menschen durch die göttliche Gnade. Die Heiligen werden so zum Hoffnungspunkt einer unerlösten Welt und weisen sie auf die größere Dimension Gottes hin, der sein Werk vollenden wird, das Unrecht zu überwinden, die Traurigen zu trösten, die Not zu wenden. Eben doch ganz so, wie es die Seligpreisungen sagen.

Beitragsbilder: Grabmal des Heiligen Audemar (Ausschnitt) Innenraum der Kathedrale in Saint-Omer, Frankreich

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