Am 17. September wurden im Beisein des Künstlers zwei Glasfenster des in der Nähe von Schwerin geborenen Günther Uecker in einem feierlichen Gottesdienst vorgestellt.[1] Sie befinden sich im nördlichen Querschiff des Schweriner Doms und ersetzen die weißen Fenster, die sich an dieser Stelle befunden hatten. Uecker, mittlerweile 93 Jahre alt, ist einer der bekanntesten bildenden Künstler Deutschlands. Mit den Kirchenfenstern beschreitet er mit seinem vielleicht letzten großen Kunstwerk eine ähnliche Entwicklung wie sein Kommilitone zu Studienzeiten, Gerhard Richter, der 2007 ein neues Fenster für den Kölner Dom und 2020 die Chorraumfenster der Abtei Tholey gestaltete. Mit einem Mal kehrt die große, zeitgenössische Kunst in den Kirchenraum zurück, von dem sie sich über die letzten Jahrzehnte nicht selten vehement distanziert hatte.
Wer nun den Schweriner Dom betritt, wird sofort auf die Fenster aufmerksam. Sie sind in einem tiefen Blau gehalten, das sich in unterschiedlichen Schattierungen auf die Glasfläche verteilt. Ueckers Entwurf entstand zunächst als Gemälde und wurde mit erstaunlicher Präzision auf das Glas übertragen. Auch in der Glasmaltechnik bleibt der Eindruck der aufgetragenen Farbe auf der Leinwand erhalten, als habe man das Blau mit dem Pinsel großflächig auf dem Glas verteilt. Das technische Verfahren, das hierzu verwendet wurde, war das Folgende: Aus der ursprünglich einheitlichen (monochromen) tiefblauen Glasfläche wurden durch Ätzung Farbschichten entfernt, so dass sich das Blau an den gewünschten Stellen aufhellte. An einigen Stellen wird es ganz entfernt, so dass in den Fenstern das weiße Licht den blauen Grundton durchbricht. Auf der Glasfläche des linken Fensters erscheint ein weißer Lichtbogen der sich von der unteren rechten Seite der gotischen Fenstergestalt an den oberen Rand der Glasscheiben hindurchzieht. Auch auf dem rechten Fenster ist dieser Bogen zu sehen, wenn er auch hier aus einzelnen „Lichtscharten“ zusammengesetzt ist.
Was ist hier zu sehen? Die abstrakte Darstellung lässt den Freiraum zur Interpretation. Uecker selbst gab zwar ein paar Hinweise auf das Werk, auf die später noch eingegangen werden soll. Zunächst aber bleibt eine Deutungsoffenheit bestehen, die mit unterschiedlichen Assoziationen gefüllt werden kann. Insofern wird es kein „richtige“ und keine „falsche“ Deutung geben, falls eine Deutung neben dem ästhetischen Eindruck überhaupt nötig ist. Erst einmal ist dort durch die Fenster nicht mehr, aber auch nicht weniger wahrzunehmen, als Farbe und Licht. Damit sind wir bei den Grundelementen der gotischen Kathedralkunst.
Die Gotik entsteht in Frankreich, mutmaßlich in der Abtei Saint-Denis vor den Toren von Paris.[2] Deren Abt Suger ließ Anfang des 12. Jahrhunderts die vorher steinernen Wände des Chorraums öffnen, um Platz für großflächige Fenster zu schaffen. Anders als zuvor dienten die Fenster nicht rein praktisch der Beleuchtung des dunklen Innenraums, sondern folgten einer geistlich-philosophischen Idee. Der französische Historiker Charles Duby führt die Entstehung der Gotik auf eine „Relecture“ antiker altchristlicher Schriften zurück. Insbesondere die Wiederentdeckung des spätantiken christlichen Philosophen, der unter dem Pseudonym „Diogenes Areopagita“ schrieb, habe einen wichtigen Impuls geliefert. Diogenes habe mit seinen neu-platonischen mystischen Schriften das „neue“ Denken des Mittelalters stark beeinflusst. Der Neuplatonismus ging von einer Rangfolge der Dinge aus. Die konkreten Gestalten der dinglichen Welt waren Ausfluss geistiger Ideen, also abstrakter Entitäten, die nur durch Annäherung erschlossen werden konnten. Die Ideen wiederum verstand man als Ausfluss des Seins, das wiederum Ergebnis des göttlichen Wirkens ist. Gott steht als Ursprung und Urheber aller Dinge am Ende der menschlichen Erkenntnis. Eine besondere Rolle spielt dabei das Licht, jenes nicht materielle Element, das in der Lage ist, sich in den vielen Farben zu brechen. Das reine, weiße Licht (das Sein) ist Symbol der göttlichen Wirkmächtigkeit. Augustinus deutet an einer Stelle das biblische Wort von der Erschaffung des Lichtes als eine Art göttliche Erweckung der geistigen Welt.[3]

Das Licht der gotischen Kathedrale ist in dieser Weise philosophisch-mystisch ausgedeutet. Ein Bauwerk aus Licht löst die dingliche Welt auf ihre wahre, geistige Struktur und im letzten auf ihren göttlichem Ursprung hin auf. Das Bauwerk, insbesondere der Kirchbau, wird „transzendent“. Die Fenster sind somit weit mehr als ein bloßer Schmuck.
Ein weiteres kommt hinzu. Duby weist auf mittelalterliche Vorstellung hin, dass sich „die göttliche Ausstrahlung in bestimmten privilegierten Objekten verdichtete“.[4] Insbesondere Edelsteinen wies man diese Fähigkeit zu. Die gotische Kathedrale wurde reichhaltig mit Kristallen und Juwelen verziert. Die Glaskunst imitierte die Edelsteine. Schließlich beschreibt die Bibel in der Offenbarung des Johannes das himmlische Jerusalem als Stadt aus Edelsteinen. Das weiße Licht bricht sich in den vielen Farben und macht die Kathedrale zu einem Abbild eben der erwarteten himmlischen Stadt, einem Zwischenort, in der die erhoffte Vollendung des Lebens und der Welt bereits erfahrbar wird. Den Farben wurden dabei, ähnlich wie den Edelsteinen, unterschiedliche mystische Bedeutungen gegeben.
Zur „Stilikone“ des neuen gotischen Stils wurde (neben der Sainte-Chapelle in Paris), die Kathedrale Notre Dame in Chartres. Ihre Ausstattung gilt bis heute als Höhepunkt der gotischen Glaskunst. Anders als andere Kathedralen Frankreichs, hat sie vergleichsweise wenige Veränderungen in Bau und Ausstattung erfahren. In Chartres erscheint der Typus der lichtdurchfluteten und zugleich mystisch dunklen gotischen Kirche. Dazu trägt maßgeblich bei, dass die Fenster im Grundton eines tiefen Blau gehalten sind, das bis heute als Chartres-Blau bekannt ist und jahrhundertelang nicht reproduziert werden konnte. Der Schriftsteller Joris-Karl Huysmans, der der Kathedrale einen ganzen Roman widmete, beschreibt sie wegen ihrer Steinfarbe und Fenster als „eine Blondine mit blauen Augen.“[5] Huysmans erkannte in Chartres so den Inbegriff einer nordischen Ausprägung des Christentums, deren Grundfarbe „Ultramarinblau“ war. Das Blau (zugleich die Farbe Mariens) beschreibt er, christlich gedeutet, als Farbe der Keuschheit, der Unschuld, der Reinheit des Herzens.[6] Damit wird Blau zu einem Ausdruck der Tugend und zugleich zur Farbe der jenseitigen Wirklichkeit des Himmels, nach der die Menschen streben. Blau ist Ausdruck dessen, was noch nicht erreicht ist, sondern erhofft wird. Huysmans erzählt davon, dass Yves, der Bischof von Chartres angeordnet haben soll, das Violett im Kleid der Bischöfe durch Blau zu ersetzen, um sie daran zu erinnern, sich mehr um die Güter des Himmels als um die Güter der Erde zu kümmern.[7]
Diese Deutung der Farbe Blau hat sich auch abseits des christlichen Kontextes erhalten.[8] Novalis, der Dichter der Romantik, schrieb von der Sehnsucht nach der „Blauen Blume“ und verstand unter diesem Symbol den menschlichen Wunsch nach Erlösung, Vollkommenheit (auch in der Kunst) und ewigem Leben. Die „Blaue Blume“ geht dabei wahrscheinlich auf die blaue Lotusblüte zurück, die in Ägypten als fruchtbarmachend galt und den Verstorbenen als Grabbeigabe mitgegeben wurde, um deren Wiederbelebung zu erleichtern.
Blau bleibt die Farbe der Sehnsucht. Die „blaue Stunde“ bezeichnet den Übergang, den schwebenden Zustand zwischen Tag und Nacht. Jürgen Goldstein schreibt dazu: „Als Stunde des Glücks und der Melancholie, der Verbundenheit und Einsamkeit, erlebt der sich ihr Hingebende Momente, die aus dem Gefüge des Alltags herausfallen und wenn sie vergangen sind, ‚weiß keiner, ob sie war‘.“ Dieser „transzendierende, melancholische und damit sehnsüchtige Zustand“ hat sich etwa im Jazz in der „blue note“ erhalten, einem Ton, der in die Tonleiter eingefügt wird, obwohl nach den Regeln der Harmonik nicht zu ihr gehören würde. Die Musik bleibt auf der „blue note“ in einem unbestimmten Moment stehen.

Für den Künstler Yves Klein wurde das Blau, angeregt durch das vollkommene Blau des Himmels, zur Grundfarbe seiner Kunst. Er entwickelte einen patentierten „reinen“ Blauton, der die Vollkommenheit und die „spirituelle Erfassung des Alls“ (Jürgen Goldstein) bewirken sollte, weil für Klein in dieser Farbe das „kosmische Ganze“ einzufangen war.
Günther Ueckers Kirchenfenster in Schwerin können also in eine lange ideengeschichtliche Tradition eingeordnet werden. Ihr tiefes Blau darf auf den Gedanken der Erlösungs- und Vollkommenheitssehnsucht bezogen werden. Das Blau wird durch die Wegnahme seiner Farbschichten am Ende eines langen Künstlerlebens auf das reine Weiß der Erkenntnis, vielleicht auch des Glaubens hin durchlässig. Der „Lichtbogen“ spannt sich als dünne und brüchige Ahnung durch die suchenden und hoffende Existenz. Das nördliche Querhaus (also das ohne direkte Sonneneinstrahlung während des Tages), an dem die Fenster zu sehen sind, gilt im gotischen Kathedralbau als Ort des Todes. Im Limburger Dom hat sich diese Symbolik erhalten. Das Nordende der Kathedrale ist Begräbnisort, das Südende Ort der Taufe und damit des neuen Lebens in Christus. Ob Uecker bei der Gestaltung der geplanten Fenster für das südliche Querhaus auf diese Symbolik eingehen wird, ist offen. Der Künstler selbst schrieb 2020 zu den Entwürfen seiner Fenster: Ein Lichtbogen, „der uns ins Universum führt auf der Narbe unserer Verletzungen aus einer Quelle von Leben und seiner Gefährdung“[9] Der Schweriner Dom hat seine „blaue Stunde“ gefunden, in der Sehnsucht auf Erlösung und Vollkommenheit.

Beitragsbilder: Kirchenfenster von Günther Uecker, Rosette in der Kathedrale von Laon, „Blaue Stunde“ in Schwerin mit Blick auf den Dom
[1] Schweriner Dom erhält Fenster des Künstlers Uecker – DOMRADIO.DE
[2] S. hierzu Charles Duby, Die Zeit der Kathedralen, Frankfurt 1992, 175-189.
[3] Augustinus, Bekenntnisse, 13. Buch, Abschnitt 3.
[4] Duby, 178.
[5] Joris-Karl Huymans, Die Kathedrale, München 2009 (original 1898), 136.
[6] Huymans, 149.
[7] Huymans, 160.
[8] Für die folgenden Anmerkungen und Zitate verweise ich auf Jürgen Goldstein, Blau, Berlin 2017.
[9] Zitiert bei Domradio, s. oben.
Lieber Herr Dr. Bergner, meine Gedanken kreisen um Ihren Blog-Eintrag. Vieles davon haben wir seit 2009 diskutiert. Als wir die Entwürfe von Prof. Uecker vor über drei Jahren dann endlich in den Händen hielten, kam uns auch Yves Kleins Lebenswerk in den Sinn. Yves Klein war zu Lebzeiten der Schwager von Günther Uecker. Er hatte seine Schwester Rotraut, später selbst Künstlerin, damals aus der DDR geschmuggelt. Ich will Herrn Prof. Uecker darauf ansprechen, wenn ich ihm das nächste Mal begegne. Danke für Ihren Text. Herzliche Grüße Thomas Balzer
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Lieber Herr Balzer, erst einmal ein großes Lob an die Domgemeinde, dass das Uecker-Projekt erfolgreich war. Ich stelle mir vor, dass es einen langen Atem und viel Überzeugungskraft gekostet hat, das Vorhaben zu realisieren. Ich hoffe, dass die fehlenden Mittel für Teil 2, das südliche Querhaus schnell zusammenkommen. Vielen Dank für den Hinweis auf die Verbindung zu Yves Klein. Ich denke, dass Künstler eher intuitiv arbeiten, aber die Idee der „universellen“ Farbe könnte bei der Gestaltung der Fenster eine Rolle gespielt haben. Vielleicht mag Herr Uecker tatsächlich dazu etwas sagen.
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