Über die Nachsicht Gottes

Als Jugendlicher bin ich einige Jahre als Gruppenleiter beim Zeltlager unserer Pfarrei dabei gewesen. Damals hatten wir die Gewohnheit, uns nach dem Abendessen zur Gruppenleiterrunde zu treffen. Wir haben uns erzählt, wie wir den bisherigen Tag erlebt haben, das Programm für den nächsten Tag besprochen und dann Fragen geklärt, die sich im Lauf der Zeit ergeben haben. Die Gruppenleiterrunden konnten manchmal sehr lang werden. Am längsten und intensivsten wurden sie, wenn es um eine bestimmte Frage ging. Diese Frage war: Wie gehen wir mit Teilnehmern um, die sich nicht an die Regeln halten? Das kam immer wieder einmal vor: Kinder oder Jugendliche, die unerlaubt das Gelände verließen, die andere aus der Gruppe schlecht behandelten, die etwas kaputt machten oder die das Programm boykottierten. Den jüngeren Gruppenleitern aus der Runde riss dabei gerne einmal der Geduldsfaden. Sie stellten die Frage, ob man solche Teilnehmer nicht einmal für ihr Verhalten bestrafen sollte, etwa, indem sie zusätzliche Dienste übernehmen oder von bestimmten Programmpunkten ausgeschlossen werden. Die älteren Gruppenleiter hielten in der Regel dagegen: Man dürfe Kinder nicht bestrafen, sagten sie. Das einzige, was man tun solle, sei, mit den betreffenden Teilnehmern ins Einzelgespräch zu gehen, auf ihre Einsicht zu drängen, damit sie wieder in die Spur zurückfänden. Zur Not müsse man diese Gespräche halt immer wieder führen.

Diese Meinung setzte sich regelmäßig durch. Mit den Jahren habe ich sie auch immer besser verstanden. Ich dachte am Anfang, die Position, das Gespräch zu suchen, nachsichtig zu sein, wäre eigentlich eine schwache Position, denn nur, wer Konsequenzen zieht und Strafen verhängt ist stark. Wer aber vorher nicht versucht, Konflikte auszuräumen, Einsicht und Verständnis auf beiden Seiten zu bewirken, ist in Wirklichkeit schwach. Die Strafe blieb das letzte Mittel. In Wirklichkeit war der Ruf nach schnellen Konsequenzen bei den jüngeren Gruppenleitern häufig ein Ausdruck von Ungeduld, oft auch von Unsicherheit. Man versuchte, einen Konflikt schnell autoritär zu beseitigen, statt sich ihm wirklich zu stellen. Und auf das Ganze unseres Zeltlagers gesehen war es besser, auf Einsicht und Besserung zu setzen, so dass auffällige Kinder und Jugendliche die Chance bekamen, sich wieder zu integrieren und ihren guten Willen zu zeigen. Meist hat das auch irgendwie geklappt.

Dies ist ein Beispiel. Man kann es nicht einfach auf alle Lebensbereiche gleichermaßen anwenden. Es ging bei uns im Zeltlager um ein gutes Miteinander und um die Aufrechterhaltung einer notwendigen Ordnung, in der die Ferienfreizeit für alle Beteiligten gut funktionieren konnte. Es ging nicht um Straftaten oder Vorkommnisse, bei denen andere schwer geschädigt worden wären.

Die Lesung aus dem Buch der Weisheit liefert für das genannte Problem der Übertretungen einen sehr interessanten Beitrag. Es heißt dort:

Es gibt keinen Gott außer dir, der für alles Sorge trägt; daher brauchst du nicht zu beweisen, dass du gerecht geurteilt hast. Deine Stärke ist die Grundlage deiner Gerechtigkeit, und deine Herrschaft über alles lässt dich gegen alles Nachsicht üben. Stärke beweist du, wenn man an deine unbeschränkte Macht nicht glaubt, und bei denen, die sie kennen, strafst du die trotzige Auflehnung. Weil du über Stärke verfügst, richtest du in Milde und behandelst uns mit großer Nachsicht; denn die Macht steht dir zur Verfügung, wann immer du willst. Durch solches Handeln hast du dein Volk gelehrt, dass der Gerechte menschenfreundlich sein muss, und hast deinen Söhnen die Hoffnung geschenkt, dass du den Sündern die Umkehr gewährst (Weish 12, 13.16-19).

In diesem Text wird zunächst die Größe und Stärke Gottes gepriesen. Man würde nun vielleicht einen Satz erwarten wie: „Weil du stark bist, strafst du den Sünder.“ Stattdessen aber wird gesagt: Weil du stark bist, lässt du Nachsicht walten. Echte Souveränität zeigt sich erstaunlicherweise in der Milde. Es gibt allerdings zwei Ausnahmen: Wer die Souveränität Gottes nicht anerkennt, muss mit Konsequenzen rechnen, weil sich der Herrscher nicht leisten kann, dass man seine geltende Ordnung aus Prinzip verachtet oder ablehnt. Die zweite Ausnahme: Wer die Ordnung kennt und trotzdem mutwillig gegen sie verstößt, der kann ebenfalls nicht auf Nachsicht hoffen.

Jetzt wird es uns schwerfallen, überhaupt in solchen rechtlichen Kategorien von Gott zu denken. Die Idee des Herrschers, des Gesetzgebers, des sanktionierenden Gottes scheint uns doch sehr unzeitgemäß. Wir sind aber im Kontext der biblischen Theologie und hier spielt dieses Motiv eine enorm große Rolle.

In der Verkündigung Jesu geht es ja zentral um das Reich Gottes. Dieses beschreibt den Herrschaftsbereich Gottes, in dem seine Ordnung gilt. Es soll ein Reich der Gerechtigkeit und des Friedens sein, ein Raum, in dem sich das menschliche Leben entfalten kann, aber auch ein Raum, in dem es Orientierung und Wertmaßstäbe findet. Dieses Reich Gottes soll bei Jesus wachsen. Jesu Mission ist es, diejenigen, die am Rand stehen, die also nach dem Denken der Zeit nicht in voller Gemeinschaft mit dem Gottesreich sind, wieder in die Gemeinschaft zu integrieren. Das gilt für die Juden, aber auch zunehmend für diejenigen, die bislang nicht an Gott geglaubt haben. Die Zeit der Sammlung ist bei Jesus dann eine Zeit der Nachsichtigkeit und Milde, zuweilen auch eine Zeit der Amnestie, wie sie im jüdischen Gnadenjahr (Jubeljahr, s. Lk 4,19) vorgesehen ist (vgl. Lev 25). Es ist die Zeit, in der die Sünden erlassen werden, die Gerechtigkeit wieder neu etabliert wird, die Krankheiten geheilt werden. Das Gesetz wird dabei zugunsten der Schwachen großzügig interpretiert. Jeder bekommt die Möglichkeit zur Umkehr. Und so werden die neutestamtlichen Stellen von Vergebung und Heilung meist so eingeleitet, dass zunächst ein Glaubensbekenntnis erfolgt, also eine Anerkennung der Herrschaft Gottes, wie sie in Jesus wirkmächtig verkündet wird. Auf das Glaubensbekenntnis folgt dann der Akt der Gnade, also der Nachsicht.

Das Buch der Weisheit beschreibt also in dieser Form die Herrschaft Gottes und in gewisser Weise auch seine Pädagogik. Wir dürfen annehmen, dass wir seit Christus unter der Logik des Gnadenjahres leben und auf die Nachsicht Gottes vertrauen dürfen. Am Ende des Textes empfiehlt das Weisheitsbuch die Übernahme dieser Logik in das menschliche Leben (Weish 12,19). „Der Gerechte muss menschenfreundlich sein“, heißt es da. Das bedeutet nicht, dass es keine Ordnung gibt. Es bedeutet aber, dass innerhalb der Ordnung Nachsicht herrscht, sofern nicht bewusst und aus bösem Willen gegen sie verstoßen wird. Diesen Grundsatz kann man sich merken. Er gilt insbesondere für das kirchliche Leben, wo er sicher manchmal zu wenig beachtet wird (wo aber umgekehrt auch manchmal das Bestehen einer Ordnung ignoriert wird). Er kann aber auch für andere menschliche Gemeinschaften gelten. Zuletzt gilt er für mich selbst im Umgang mit meinen eigenen Schwächen und meinem eigenen Versagen. Er ruft mich auch zur Barmherzigkeit mit mir selbst auf, nicht im Sinne einer Gleichgültigkeit meinem eigenen Tun und Denken gegenüber. Ich muss schon eingreifen, wenn ich den Eindruck habe, dass ich mich selbst auf eine völlig schiefe Bahn begeben habe. Die Barmherzigkeit gegen mich selbst ist gemeint in dem Sinne, dass ich mir selbst die Möglichkeit zur Umkehr gebe, nicht gleich verzweifle, wenn ich nicht der bin, der ich sein sollte, sondern die Geduld aufbringe, langsam das Gute wieder wachsen zu lassen. Wir glauben an einen Gott, der uns in Liebe annimmt und zum Guten führt, der Geduld und Nachsicht mit uns hat und dem man sich so ohne Angst anvertrauen kann.

Beitragsbild: Dachfester, Deutsches Historisches Museum, Berlin

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