Kulturkampf
Vor drei Jahren habe ich hier auf meinem Blog einen Artikel über Romantik und Identitätspolitik veröffentlicht.[1] Damals hatte ich den Eindruck, dass dies dem Trend der Zeit entsprach. Die Identitätspolitik mit ihrer Aufmerksamkeit auf die sogenannten Genderfragen, Kolonialismus und Sensibilität für Minderheiten beherrschte den öffentlichen Diskurs. Dieser kannte scheinbar nur die Richtung „Wokeness“, einen als fortschrittlich empfundenen philosophischen Mainstream. Ich habe damals Parallelen zur Phase der deutschen Romantik gezogen. Diese hatte sich im 19. Jahrhundert als Abwehrreaktion einer jungen Generation gegenüber der Rationalisierung und Objektivität der Aufklärung entwickelt. Das erste Kennzeichen war die Auflösung der geltenden Wahrheiten gewesen. Während sich die Aufklärung darum bemühte, verbindlich zu klären was universal „wahr“ und was „richtig“ ist, verlegte die Romantik diese Fragen in das Empfinden des einzelnen Menschen zurück. Die „Wahrheit“ ist hier etwas Gefühltes. Die allgemein geltenden Regeln der Gesellschaft in ihrer häufig sehr wissenschaftlich-sachlichen Nüchternheit wurden in Frage gestellt.
Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs überlebte dieser Gedanke vor allem in den linksliberalen Milieus. In der eher technischen und vor allem kapitalistischen Funktionsweise des neuen demokratischen Staates (der viele seiner Grundlagen aus der Aufklärung übernommen hatte) etablierte sich der Gedanke der „Entfremdung“. Dies bedeutete, dass die Ordnung des Staates, vor allem aber die geltenden gesellschaftlichen Regeln und Denkweisen in Frage gestellt wurden. Das Ziel war, eine neue, „bessere“ Gesellschaft zu schaffen. Das Individuum mit seinen Rechten und Bedürfnissen trat dabei verstärkt ins Blickfeld.
Philosophisch wurde dieses Denken intensiv begleitet und erlebte mit der Zeit eine erstaunliche Breitenwirkung. Besonders die Thesen des französischen Theoretikers Michel Foucault (1926-1984) erwiesen sich besonders ab den 90er Jahren als enorm einflussreich. Foucault entwickelte die Theorie der „Diskursmacht“. Seine Idee (grob umschrieben): Die Machtverhältnisse in der Gesellschaft ändern sich mit der Art und Weise, wie die Gesellschaft sich selbst versteht. Der Diskurs, verstanden als eine Art politischer, ethischer, kultureller „Common Sense“ beeinflusst das Handeln der Verantwortlichen und sorgt für eine neue Politik. Der Staat setzt nicht bloß den Ordnungsrahmen des menschlichen Zusammenlebens (etwa durch Gesetzgebung und Justiz), er prägt die Gesellschaft auch auf eine andere Weise. Foucault spricht von der „Pastoralmacht“ gesellschaftlicher Träger. Sie geht einher mit Techniken, um die Herzen, Gedanken und Ideen der Menschen durch Erziehung, Sprache und Überwachung von Regeln zu prägen und auf den jeweiligen Diskurs hin zu beeinflussen. Wenn ich es richtig sehe, hatte Foucaults Denken eine liberale Ausrichtung. Er setzte auf die Enttarnung oder „Dekonstruktion“ der herrschenden Verhältnisse. Das Individuum sollte als selbstständiges Subjekt ernst genommen werden. Im liberalen Staat müsse es erlaubt sein, dem herrschenden Diskurs Gegendiskurse, also alternative Lebensweisen und Überzeugungen entgegenzusetzen.
Ein Schlüsselbegriff dieses Denkens ist „Emanzipation“. Bestehende Denkweisen werden in Frage gestellt, zugunsten der Individuen verändert und zum Teil des öffentlichen Diskurses gemacht. Gesellschaftlich benachteiligte Gruppen sollen mit ihren Rechten voll in die Gesellschaft integriert werden: Frauen, Kinder, Nicht-Heterosexuelle, sozial Randständige, gesundheitlich Beeinträchtigte, Menschen mit anderer Herkunft oder Hautfarbe. Der moderne demokratische Staat ist diskursoffen, liberal und „bunt“. Durch zahlreiche gesellschaftliche Initiativen wurden die oftmals sehr berechtigten Anliegen einzelner Gruppen Teil des Diskurses und fanden ihre Fürsprecher Stück für Stück auch in politischen Parteien. Auf diesem Weg hielt der Emanzipationsgedanke zunehmend Einzug auch in die Gesetzgebung und Rechtsprechung.
Die Strömungen der „Identitätspolitik“ verschärften den Emanzipationsgedanken. Im Kern handelt es sich um eine philosophische Theorie, welche die Geltung bisheriger gesellschaftlicher Normen hinterfragen und im letzten ersetzen möchte. Eine Kernidee ist z.B. die Beseitigung der Reste kolonialen Denkens und damit des unterstellten subkutan weiterbestehenden Rassismus‘. Zu den spektakulären Schlussfolgerungen der Identitätspolitik gehört auch die Überwindung biologischer Grenzen, indem die geltende Ordnung der Geschlechter (männlich/weiblich) nicht mehr durch die angeborene Körperlichkeit, sondern durch die subjektive Zugehörigkeit bestimmt wird. Kurz: Jeder Mensch ist geschlechtlich im Grunde einzigartig und darf in seiner freien Selbstzuschreibung nicht behindert werden. In diesem Zusammenhang können dann auch die bislang selbstverständlichen Institutionen von Ehe und Familie als soziale Konstrukte entlarvt und neu definiert werden.
Der moderne demokratische Staat kann die unterschiedlichen emanzipatorischen Strömungen durch das Prinzip der politischen Teilhabe bis zu einem gewissen Grad gut integrieren. Verschiedene gesellschaftliche Diskurse haben auf diese Weise Anteil an der Prägung des „Common Sense“. Nun konnte man etwa ab den 2000er Jahren beobachten, wie die neuen „emanzipatorischen“ Diskurse zunehmend einflussreicher wurden. Zur Prägung des Diskurses nutzen die Liberalen die Mittel der „Pastoralmacht“. In Schulen und Universitäten wurde (und wird) der identitätspolitische Ansatz nicht nur vermittelt, sondern teilweise sogar verbindlich zum Standard erklärt. Die philosophischen Einsichten des Identitätsdenkens sollten für die Zukunft den gesellschaftlichen Diskurs prägen. Dies äußerte sich im öffentlichen Bereich nicht bloß in der Gesetzgebung, etwa zur geschlechtlichen Selbstbestimmung, sondern auch in der Etablierung gewisser Sprachkonventionen, von denen der „Genderstern“ vielleicht das prominenteste Beispiel ist. Offensichtlich nahm man an, dass sich das „neue Denken“, also der dekonstruktivistische Ansatz, auf längere Sicht als neuer „Common Sense“, als neuer „herrschender Diskurs“ etablieren würde.
Es kam anders. Ich habe den Eindruck, dass die Vertreter des „neuen Denkens“ unterschätzt haben, wie stark auch andere Denkweisen und Diskurse weiterhin verbreitet sind oder sich neu etablieren. Dabei finden sich in der Bevölkerung nicht bloß „Konservative“, die eine „alte Ordnung“ bewahren möchten. Vielmehr hat sich zum identitätspolitischen Diskurs längst ein neuer Gegendiskurs mit ganz eigenen Vorstellungen entwickelt. Aus meiner Sicht werden wir gesellschaftlich gerade Zeugen eines „Kulturkampfes“. Die westliche Welt marschierte eben nicht einheitlich in Richtung eines herrschenden „linksliberalen“ Diskurses, sondern bringt zunehmend auch in Wahlergebnissen (etwa in den USA, Brasilien, Polen oder Italien) die Vertreter eines Gegendiskurses in entscheidende Positionen. Im Amerikanischen spricht man vom „vibeshift“ („Stimmungsumschlag“), also einer grundlegenden Änderung des Diskurses. Ich habe den Eindruck, dass es sich bei dieser Bewegung nicht um den Kampf der „alten Ordnung“ gegen eine „moderne Welt“ handelt. Es stehen sich nicht „Konservative“ und „Progressive“ gegenüber, sondern zwei Positionen, die sich beide als „progressiv“ verstehen.
Auch diese Entwicklung ist aus der Geschichte bekannt. Die Romantik bildete schließlich ebenfalls diese beiden Zweige aus. Nach der Infragestellung der etablierten, aufklärerischen Ordnung entstand neben der Bewegung der freien Individualität etwas später auch eine weitere Strömung. Das freigewordene ideologische Feld des gesellschaftlichen Grundkonsenses wurde mit neuen Leitideen gefüllt. Es entstand die neue Sammlungsbewegung des romantischen Nationalismus. Auch hierbei handelte es sich nicht um eine „konservative“ Rückkehr alten Denkens, sondern um eine damals moderne und progressive Idee. Parallel begann übrigens auch eine Blütezeit der katholischen Kirche (mit der wir uns später noch beschäftigen werden). Dies war kein Zufall. Es lohnt sich also, auf die neuen Bewegungen zu schauen, die sich gerade gesellschaftlich etablieren. Möglicherweise gleichen sie sich mehr als wir auf den ersten Blick vermuten.
[1] Wanderer unterm Genderstern [über Identität und Romantik] – Teil 1 – Sensus fidei
Hallo Sensus Fidei,
danke für den Beitrag. Erlauben Sie mir ein paar Fragen?
Wofür steht denn Ihrer Meinung nach Jesus Christus: für die Bewahrung der Schöpfung oder die Bewahrung des „Reichtums“ der Öl- und Rüstungsindustrie? Für den Schutz der Menschen am Rande der Gesellschaft oder die Ächtung des Andersartigen? Für die Macht der Stärkeren oder den Schutz der Schwachen?
Haben Sie den Mut zu antworten?
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Die Frage ist natürlich eindeutig im Sinne der Schwachen zu beantworten. Es wird sich im weiteren Verlauf noch zeigen, dass aber genau dies noch eine Rolle spielen wird, weil die Narrative den Begriff „schwach“ unterschiedlich besetzen. Im Übrigen habe ich bislang nur Entwicklungen beschrieben, noch keine Wertung gegeben
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Danke für Ihre Antwort.
Es waren ja 3 Fragen – möchten Sie auch auf „Reichtum“ und „Andersartigkeit“ eingehen?
Oder war das implizit? Sprechen Sie sich für den Schutz der Armen gegen die Übermacht der Reichen und den Schutz der Menschen am Rande der Gesellschaft (Flüchtlinge, Minderheiten) gegen die Interessen der Mehrheit aus? Sind Arme und Minderheiten „schwach“? Was bedeutet schwach?
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Meine persönliche Meinung ist, dass man mit der katholischen Soziallehre, die maßgeblich das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft geprägt hat, einen ganz guten Weg für eine halbwegs gerechte Wirtschaftsordnung gefunden hat. Ich komme darauf im 6. Teil noch zu sprechen. Die Frage, was Jesus gewollt hat, ist nicht so leicht zu beantworten. Ich habe versucht, das in einem früheren Beitrag „Was Jesus heute tun würde“ zu beschreiben.
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Danke für den Hinweis auf den älteren Artikel, in dem ich auch einen Verweis auf Bultmann fand.
War es nicht Bultmann, der die These aufstellte, dass Gottes Reich mit Jesus begonnen hat und wir in der Nachfolge als Christenheit dazu beitragen können, Gottes Reich sichtbar zu machen? Insofern sind die Evangelien doch von zentraler Bedeutung für das Verständnis dessen, was Jesus gepredigt hat und wie er gelebt hat, d‘accor?
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Ich habe alle Ihre Kommentare bei Eingang freigegeben. Es müsste somit alles zu lesen sein.
Bei Bultmann bin ich mir nicht ganz sicher… Er geht ja davon aus, dass wir außer dem „Jesus der Heiligen Schrift“, also einem bereits im Glauben reflektierten Jesus keinen anderen haben. Dies bringt zum einen eine kritische Distanz zur Schrift mit sich, zum anderen aber auch eine Betonung des Glaubens als Notwendigkeit, Christus zu verstehen. Nach dem Zeugnis der Schrift sind wir bereits „Bürger“ des angebrochenen Gottesreiches und sollen nach dessen Gesetzmäßigkeiten leben.
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