Der leere Raum

Ich habe in meiner Ausbildung einmal einen wertvollen Tipp bekommen: „Wenn du später einmal für eine Kirche verantwortlich bist, gehe ganz zu Anfang in den Raum, schaue dich gut um und notiere dir alles, was dich stört und was du gerne ändern möchtest. Wenn du es nicht gleich aufschreibst, gewöhnst du dich an den Zustand, wie er gerade ist. Nach einem Jahr fällt dir nichts mehr auf, was dich stören würde.“

Ich habe versucht, diesen Rat zu befolgen. So habe ich mir vor einigen Jahren unsere Kirche St. Marien in Rehna genauer betrachtet. Mir fiel auf, dass sich in der Marienkapelle eine ganze Ansammlung von Topfpflanzen befand, die den Raum verstellten. Auf Nachfrage wurde mir gesagt, dass die Pflanzen von Gemeindemitgliedern geschenkt wurden, weil sie ihnen zu Hause zu groß geworden waren. Vor einiger Zeit habe ich mich daher getraut, zu fragen, ob wir uns von den Gewächsen nicht mal trennen können. Es war der Anfang einer größeren Aktion. Die Marienkapelle wurde aufgeräumt. Dann haben wir uns das Büro angeschaut, die Sakristei und schließlich den Keller. Das Ganze endete in einer großen Aufräumaktion vor zwei Wochen. Wir haben jede Menge Sachen gefunden, die schon längst nicht mehr gut waren und nicht mehr gebraucht wurden. Am Schluss war ein ganzer Container voll.

Das Aufräumen hatte zwei Seiten. Zum einen war es eine Erleichterung, sich von vielem, was sich im Lauf der Jahrzehnte angesammelt hatte, Abschied zu nehmen. Zum anderen war das Aufräumen aber auch nicht ganz ohne Wehmut. Denn viele der Sachen erinnerten an Ereignisse in der Gemeindegeschichte oder an Menschen, die mit ihnen in Verbindung standen.

Ich vermute einmal, Sie kennen das aus ihrem eigenen Haushalt. Wir bewahren so vieles auf, nicht weil wir es brauchen, sondern weil es irgendwie Teil unserer eigenen Geschichte ist. Der Kopf sagt „Kann weg!“, das Herz manchmal „Muss bleiben!“. Wenn man mit dem Blick des Kohelet (Koh 2, 21-23) auf einen solchen Vorgang schaut, dann würde er uns empfehlen, unser Herz nicht an die Dinge zu hängen. Alles ist „Windhauch“, das heißt: alles ist vergänglich. Es hat seine Zeit und vergeht wieder. Aller Reichtum, alles Wissen, aller Ruhm lässt sich nicht bewahren. Kohelet ist ein großer Desillusionator, ein großer Entrümpler.

Ich musste bei diesem Text an ein Bauwerk denken, das ich sehr mag. Es ist die Wismarer Georgenkirche. Diese Kirche, ein riesiger fünfschiffiger gotischer Bau, war einmal die Zierde der Stadt. Im Zweiten Weltkrieg wurde sie zerstört, verfiel und wurde in den 90er Jahren mit viel Geld und Mühe wiederaufgebaut. Wenn man heute durch den Raum geht, ist er leer. Das war natürlich nicht immer so. In der Gotik wurde die Kirche ausgemalt, sie hatte bunte Glasfenster, Altäre, Statuen, Kerzen. Die Ausstattung wurde in der Barockzeit durch Neues ergänzt, ebenso im 19. Jahrhundert. Von all dem ist in der Kirche nichts geblieben. Heute durchschreite ich einen riesigen Raum, die Wände offenbaren ihre kleinen Macken und Fehler, das Licht fällt auf nackten Backstein. Allem Zierrat beraubt wird deutlich: Das eigentliche Kunstwerk ist der Raum selbst. Nichts lenkt von seiner Struktur ab.

Haben Sie das einmal bei einem Menschen erlebt? Es kommt ja vor, dass einem Menschen alles, was ihn sonst ausmacht und umgibt genommen wird. Das kann im Schlechten sein, durch eine Krankheit oder ein Unglück, aber auch im Guten. Der Urlaub ist so eine Gelegenheit, einmal alles zurückzulassen, die Geschäftigkeit ruhen und die Seele baumeln zu lassen. In einer solchen Situation zeigt sich der Mensch in seiner Grundstruktur. Er gibt den Blick in seinen unverstellten inneren Raum frei: Seinen Charakter, sein Wesen, sein Herz – wie immer man es sagen möchte. Hier sehen wir, wie schön oder interessant ein Mensch ist.

Die Medienwelt zeigt uns ein anderes Bild. Sie setzt auf den Zierrat als Ausweis des Menschen. Ich sehe Menschen, die sich schön machen und gut trainiert sind – ob es interessant wäre, sich mit ihnen zu treffen, weiß ich nicht. Menschen präsentieren sich auf schönen Reisen oder in schönen Autos – ob es schön wäre, mit ihnen zusammen unterwegs zu sein, weiß ich nicht. Ich sehe Menschen, die Erfolg haben, Auszeichnungen bekommen, gelobt werden. Ob es angenehme Zeitgenossen für mich wären, oder gar Freunde – ich weiß es nicht.

Jesus verwendet ein Gleichnis (Lk 12, 13-21). Er stellt den äußeren Besitz in Frage. Er sagt: Sorgt euch nicht um den Reichtum, der vergeht, sondern darum, dass ihr vor Gott reich seid. Man könnte sagen: Sorgt euch um das Haus eures Lebens, nicht um dessen Ausstattung. Ist dort eine schöne Seele, ein gutes Herz? Gibt es dort Hoffnung und Glauben, die ein Leben festigen? Gibt es dort eine Liebe, die sich verdanken und weiterschenken kann? Ist dort ein Geist, der rege und inspiriert ist? Gibt es Beziehungen, die tief sind und tragen?

Vielleicht bietet die Urlaubszeit Gelegenheit, den leeren Raum wieder zu durchschreiten, Seelenpflege zu betreiben und den Reichtum des Glaubens wieder zu stärken.

Beitragsbild: Georgen Kirche, Wismar, Seitenschiff

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