(Neg-) Otium

Vor Kurzem hatte ich eine Beerdigung auf dem Schweriner Alten Friedhof. Dieser Ort ist nicht nur ein Ort der Trauer, sondern zugleich ein sehr schöner alter Park mit hohen Bäumen und verwunschenen Ecken. Es war ein sonniger Tag. Nach der Beerdigung hatte mich die Trauergesellschaft noch in das angrenzende Café eingeladen. Ich brachte meine Sachen zum Auto und ging zur Gaststätte. Die Trauergesellschaft ließ sich Zeit. Ich setzte mich auf einen Stuhl am Café und wartete. Instinktiv griff ich in meine Tasche, um nach meinem Handy zu suchen. Die Tasche war leer. Das Handy hatte ich wohl im Auto gelassen. Diese Erkenntnis löste bei mir einen kurzen Schockmoment aus. Was sollte ich jetzt tun? Ich hatte kurz den Impuls, wieder zum Parkplatz zu gehen, um mein Handy zu holen, entschied mich aber dagegen und machte dann etwas ganz Verrücktes: Ich blieb einfach sitzen. Die Sonne schien, die Vögel sangen, die Bienen schwirrten um mich herum und ich machte einfach gar nichts. Und was soll ich sagen? Das Nichts-Tun war sogar richtig schön.

Irgendetwas ist schief gelaufen. Seit wir mit unserem Handy unsere Tageszeitung, unsere Musik- und Videosammlung, unsere Mails, Fotos, Videospiele und Nachrichten immer bei uns tragen, gibt es den Zustand des Nichtstuns kaum noch. Im letzten Firmkurs habe ich das besonders krass erfahren. Sobald ich ankündigte, dass wir eine Pause machen, zückten die Jugendlichen sofort alle ihr Handy und begannen, Nachrichten zu schreiben und Spiele zu spielen. Es gibt immer etwas zu tun, so sehr, dass wir in mehreren Welten gleichzeitig leben: In einer Konferenz sitzen und nebenbei Mails schreiben, uns mit Freunden treffen und nebenbei anderen Freunden Fotos schicken, ein Buch lesen und nebenbei unsere Social-Media-Konten checken.

Die Welt früher muss enorm langweilig gewesen sein. Was haben die Menschen denn eigentlich gemacht, wenn sie etwa mit einer Kutsche einen ganzen Tag gebraucht haben, um von Schwerin nach Hamburg zu fahren oder nach Einbruch der Dunkelheit in ihren Häusern saßen, in denen es noch nicht einmal ausreichend helles Licht gab, um etwas zu lesen? Der Zustand des Nichts-Tuns trat auf jeden Fall sehr häufig auf. Dieser Zustand wird im Lateinischen „otium“ genannt, im Deutschen häufig übersetzt „Muße“. Dieser Zustand ist nicht immer angenehm. Er bedeutet häufig auch Langeweile. Er war in gewisser Weise ein Normalzustand, denn die Geschäftigkeit wird als Gegenteil von „Muße“ definiert, als „neg-otium.“

Dieses Gegensatzpaar von Otium und Negotium wird im Evangelium durch das Schwesternpaar Maria und Martha personifiziert (Lk 10,38-42). Die eine, die zu Füßen Jesu sitzt und ihm zuhört, die andere, die in Küche und Hof mit der Bewirtung beschäftigt ist. Jesus gibt der Maria und damit dem Otium den Vorrang. Dies ist kein Wunder. Wie viele Möglichkeiten der Begegnung mit Jesus werden die Schwestern gehabt haben? Sich diesem besonderen Gast zu widmen, bedeutet eben vor allem, bei ihm zu sitzen und zuzuhören.

Die christliche Tradition hat daher die Bedeutung des beschaulichen Lebens immer herausgestellt – das heißt vor allem im Klosterleben, möglichst viel Zeit für das Gebet, den Gottesdienst und die Betrachtung aufzuwenden. Zugleich sollte das Otium allerdings auch nicht in die Trägheit führen, weswegen es durch ein notwendiges Maß an Negotium aufgewogen werden musste. Das Negotium wiederum kann zur Ablenkung werden von dem, was eigentlich wichtig ist und soll daher auf ein bestimmtes Pensum beschränkt werden. Im Grunde ist diese Regel gültig geblieben – man kann es in der heutigen Ratgeberliteratur nachlesen.

Das Otium ist die Zeit, in der ein Mensch es mit sich selbst aushalten muss. Es ist die Zeit, in der sich die Gedanken sortieren und vor allem, eine Zeit, in der der Geist frei wird. Augustinus sah im Otium die Zeit des Philosophierens und des Schreibens und natürlich die Zeit des Betens. Es ist also nicht einfach eine untätige Zeit.

In Zeiten der beständigen Ablenkung durch die im digitalen Raum unablässig anwesende Welt, frage ich mich, ob wir uns nicht zu viele Gelegenheiten geschaffen haben, bei denen wir einem Fake-Negotium nachgehen, indem wir so tun, als würden wir etwas arbeiten, ohne dass es eigentlich wichtig wäre. Zugleich haben wir die Gelegenheit zum Fake-Negotium geschaffen, indem wir so tun, als würden wir uns durch ständige Zerstreuung entspannen können. Den Schülern werden die Handys während des Unterrichts abgenommen, um sich auf die Unterrichtsstunde konzentrieren zu können. Wenn das notwendig ist, frage ich mich: Wer nimmt mir denn mein Handy ab, wenn ich etwas zu tun habe, oder gerade meine freie Zeit gestalte?

Blaise Pascal hat es schon im 17. Jahrhundert so formuliert: „Wenn der Mensch glücklich wäre, würde er es umso mehr sein, je weniger er der Zerstreuung ergeben wäre, wie die Heiligen und Gott. Ja; aber heißt es nicht glücklich zu sein, wenn man durch Zerstreuungen erfreut werden kann? – Nein: denn sie kommen anderswoher und von außen.“[1] Das Glück, so ist Pascal überzeugt, entsteht erst im Zustand der Abwesenheit der Zerstreuung, wenn der Mensch ganz bei sich ist, mit allem, was dies auch an inneren Kämpfen bedeuten kann. Daher ist das Otium für ihn offenbar lebensnotwendig. Es mit sich selbst aushalten zu können, ist bei Pascal das beste Medium gegen das Unglück.

Maria, die bei Jesus ist, hat daher den besseren Teil erwählt. Ihre Seele kommt zur Ruhe – und ehrlich, wir würden uns doch wünschen, dass dies auch bei uns viel mehr der Fall sein könnte.  

Beitragsbild: Am Schweriner See


[1] Pascal, Penées, Nr. 132.

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