Beim persönlichen Kontakt mit anderen Menschen, so hat die Psychologie festgestellt, ist der Abstand zwischen den beiden Gesprächspartnern entscheidend für den Verlauf des Gespräches. Der Abstand variiert: Es gibt zwischen Menschen eine „öffentliche Zone“. In ihr beträgt der Abstand mehr als vier Meter. Dies ist etwa bei einem Vortrag oder auch der Predigt der Fall. Beträgt der Abstand zwischen zwei und vier Metern, spricht man von einer „sozialen Zone“. In ihr ist es den Gesprächspartnern nicht möglich, sich gegenseitig zu berühren. Ihr Gespräch bleibt also von einer bestimmten Distanz geprägt. In der sozialen Zone liegt z.B. die Entfernung, in der ein Arzt mit seinem Patienten spricht oder der Chef mit seinem Angestellten. Bei einer Entfernung von weniger als zwei Metern, aber mehr als 50cm spricht man von der „persönlichen Zone“. Sie setzt bereits eine Vertrautheit voraus. Es ist der Nahbereich, bei dem ich bei meinem Gesprächspartner alle Körperregungen, die Bewegung seiner Augen, die Schwankungen in seiner Sprache ganz genau wahrnehme. Das ist der Abstand, in dem sich gute Freunde miteinander unterhalten, Menschen, die einander Vertrauen schenken. Noch dichter kann der Abstand dann natürlich noch z.B. bei Liebespaaren, oder zwischen Kindern und Eltern werden, wo das Gespräch mit einem direkten Körperkontakt verbunden sein kann.
Der Abstand während des Gespräches ist also dafür entscheidend, wie intensiv ich den anderen wahrnehmen kann, wie sehr ich seine sprachlichen und körperlichen Signale wahrnehme, vor allem aber, wie nah ich diese Signale an mich heranlasse. Stellen Sie sich vor, jemand erzählt Ihnen von einem großen Kummer. In der öffentlichen Zone werde ich hauptsächlich auf das gesprochene Wort achten und darauf antworten. Das dargestellte Problem erreicht mich als eine sachliche Information. In der sozialen Zone werden mir auch Emotionen stärker auffallen. Ich kann den anderen studieren, individuell auf ihn eingehen, aber dabei selbst außen vor bleiben. Im Nahbereich hingegen ist das nicht mehr möglich. Hier fordert mich der andere zu einer unmittelbaren Reaktion heraus. Er konzentriert meine Aufmerksamkeit ganz auf sich. Es gibt kein Ausweichen, es sei denn, ich gehe bewusst auf Distanz. Der andere geht mich unmittelbar an und ich bin in dieser Situation unmittelbar für ihn verantwortlich.
Das Evangelium heute (Mk 10,35-45) handelt von diesen Bereichen. „Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen.“ Eine solche Art der Machtausübung ist bekannt. Es ist eine Macht die sich aus dem größtmöglichen Abstand äußert, die an den eigentlichen Bedürfnissen der Menschen vorbeigeht, weil sie zu ihnen keinen Kontakt hat: Der Diktator, der keine Mittel hat, um sein Volk zu ernähren, aber genug, um es mit aufwendig produzierten Filmen bei Laune zu halten und nebenbei Atomwaffen zu entwickeln. Oder die Firma, die ein blühendes Unternehmen kauft, ausplündert und nach einem Jahr alle Mitarbeiter auf die Straße setzt. Die Politikerin, die alle Problem der Menschen genau analysiert und zu kennen vorgibt, selbst aber in ihrem Leben noch nie eines dieser Probleme lösen musste.
Das etwa ist ein Handeln aus einer Distanz, die so groß ist, dass sie ihr Gegenüber am anderen Ende gar nicht mehr sehen kann.
Und jetzt kommt im Evangelium die Weisung Jesu an seine Jünger: „Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, soll euer Diener sein, und wer bei Euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein.“ Das klingt paradox: herrschen und zugleich Sklave sein. Ist es aber nicht. Es ist die Distanz der Herrschaft, die sich dabei verringert. Aus einem weitestmöglichen Entfernung wird ein Eingehen in den Nahbereich, in den Bereich, wo mich die Wünsche, Nöte, Bedürfnisse, der Kummer und das Leid genauso wie die Freuden und das Glück der anderen unmittelbar betreffen; wo ich ihnen nicht ausweichen kann, sondern wo sie mich anfragen, zur Antwort und zum Handeln zwingen.
Es geht um eine Herrschaft im Augenkontakt. Eine solche Herrschaft wird zwangsläufig die Gestalt des Dienens annehmen. So zumindest versteht Jesus seine Herrschaft. Er überwindet den scheinbar so unendlichen Abstand zwischen Gott und Mensch und geht in den Nahbereich des Augenkontaktes, der unmittelbaren Begegnung, sogar der Umarmung ein. Der Hebräerbrief sagt es ganz deutlich: „Wir haben keinen Hohenpriester, der nicht mitfühlen könnte mit unserer Schwäche“ (Hebr 4,15). Übertragen: Wir haben in Jesus keinen, der uns in großer Distanz begegnet, sondern einen, der alle unsere Bedingungen teilt. Es ist richtig: Wir nennen Jesus, Herr, Meister, König, Herrscher, Hoherpriester, aber wir nennen ihn so, weil er zum Diener und Sklaven geworden ist.
Ein solches Herrschen ist der Maßstab, den Jesus den Jüngern auferlegt. Es ist der Maßstab, nach dem ich mich selbst beurteilen könnte: Wird es mir gelingen, den großen, distanzierten Abstand zum anderen zu verringern und mit ihm in den Nahbereich einzutreten, wo ich mit ihm wie mit einem Freund, wie mit einem Bruder oder einer Schwester sprechen werde? Wo mich seine Nöte angehen und ihm nicht ausweichen werde? Die Bewährungsproben hierzu kommen immer wieder und jeder von uns wird dabei auch immer wieder scheitern. Das bleibt eine Herausforderung. Der Nahbereich fordert. Er überfordert uns auch. Er bleibt eine Mahnung, über den anderen erst zu urteilen, wenn ich mit ihm im Nahbereich zusammen gewesen bin.