Sakramente – Teil 4: Mystik, Ritus, Mythos

Instrumentelles Verständnis  

Bislang sind wir in den bisherigen Ausführungen bei einem traditionellen, d.h. im Kern mittelalterlichen Sakramentenverständnis stehengeblieben. Die Verbindung von Wort und Zeichen, die Festlegung des „Bezugsrahmens“ verleitet dazu, die Sakramente in einem eher rechtlichen Rahmen zu verstehen. In der Tat lief die theologische Diskussion über Jahrhunderte auch in diese Richtung. Es wurde darüber gestritten, welche Worte, welche Materialien (Materie), welche Zeichenhandlungen zu verwenden seien, damit die Sakramente „gültig“ gefeiert werden konnten und auf welche Weise welche Form der Gnade dem Empfänger zuteilwerden konnte. Neben dem magischen Missverständnis war eine solche Sakramentenlehre auch anfällig für eine weitere Fehldeutung. Es entwickelte sich ein „instrumentelles“ Missverständnis. Die Sakramente konnten als eine Art „göttliche Medizin“ aufgefasst werden, die zur Hilfe in bestimmten Lebenslagen diente. Zudem gab es die Frage, was zum Sakramentenempfang notwendig sei und was nicht. Das beste Beispiel dafür war das Sakrament der Eucharistie. Die Heilige Messe galt über Jahrhunderte weithin als ein Werk des Priesters. Die Gläubigen nahmen nur in Ausschnitten daran teil. Es reichte ja schließlich, im Moment der „Wandlung“ anwesend zu sein, damit sich die Gnade Gottes mitteilte. Es herrschte zudem weithin die Auffassung, dass die Teilnahme an der Eucharistie bereits im reinen „Schauen“ erfüllt war. Die Kommunion wurde zu einem seltenen Ereignis. Eine zunehmende Bedeutung erhielt dagegen das Bußsakrament, das möglichst häufig empfangen werden sollte und in seiner Struktur auf die notwendigsten Teile hin verrechtlicht wurde. Die Krankensalbung wurde zur „Letzten Ölung“ und als heilsnotwendig für den Übergang in das ewige Leben angesehen. Die Firmung wurde in einem kurzen Akt, häufig außerhalb einer Eucharistiefeier den Kindern und Jugendlichen gespendet, wenn der Bischof nun einmal gerade zur Visite in die Pfarrei kam. Die Taufe wurde aufgrund der in ihr mitgegebenen Heilsgnade zur Voraussetzung für die Rettung des Menschen zum ewigen Leben und somit kleinen Kindern möglichst gleich nach der Geburt gespendet. Die Sakramente waren über lange Zeit eher Riten des einzelnen Menschen, der sie für sein persönliches Heil in Anspruch nahm.

Verstanden die Leute eigentlich, was dort gefeiert wurde? War es notwendig, dies zu verstehen, wo es doch in erster Linie auf die Wirkung der Sakramente ankam? Zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzte eine theologische und kirchliche Erneuerungswelle ein, die auch den eingespielten Gebrauch der Sakramente hinterfragte. Es ist kein Wunder, dass in diesem Kontext später die Begriffe „Ursakrament“ für Jesus Christus und „Grundsakrament“ für die Kirche entstanden. Man verwurzelte die Sakramente wieder neu. Sie sollten wieder neu auf ihre Ursprünge hin bedacht werden, auf den Glauben an die biblische Offenbarung und die Heilsgeschichte, also wieder neu in Frömmigkeit und Theologie verankert werden. Zudem trat die kirchliche Dimension der Sakramente neu hervor. Schließlich handelte es sich bei den sakramentalen Feiern um kirchliche Vollzüge, um Liturgien, die von der Gemeinschaft der Gläubigen ausgingen und in sie zurückfließen sollten. Bei den Sakramenten sollte es nicht um einen individualistischen „Heilsakt“ gehen, also eine rein persönliche Stärkung und Heiligung. Vielmehr sollten sie zu Wegmarken des christlichen Lebens in der Gemeinschaft der Kirche werden und ihre Frucht auch in der persönlichen Sendung, im Apostolat und im ethischen Leben zeigen.

Diese Idee der Verortung und Fundierung der Sakramente im Glauben und in der kirchlichen Gemeinschaft hat das Sakramentenverständnis grundlegend verändert. Der Vorgang der theologischen und pastoralen Neuausrichtung ist ideengeschichtlich so interessant, dass ich mir an dieser Stelle einen kleinen Exkurs dazu gestatte.

Mystik, Mythus, Kult

Anfang des 20. Jahrhundert treffen verschiedene geistgeschichtliche Bewegungen zusammen. Zum einen hatten die Romantik und der philosophische Idealismus eine neue Denkbewegung in Gang gesetzt.[1] Es galt, die Dinge und Bewegungen der Welt auf ihre verborgene Wirklichkeit hin zu befragen. Das Sichtbare war nun nicht mehr einfach das, was es ist, sondern wurde als Ausdruck verborgener Ströme und Ursprünge verstanden. Zudem richteten die Altertums- und Religionswissenschaften, vor allem aber die neu entstandene „Ethnologie“ die Aufmerksamkeit auf das geistige und religiöse Leben vergangener und fremder Kulturen. Gegen eine allzu rational gewordene Auffassung von Religion, die im europäischen Christentum, vor allem im Protestantismus Einzug gehalten hatte, wurde man sich der Quellen und Ursprünge der Religion neu bewusst. Es erwacht ein neues Interesse an der Mystik (z.B. durch die Erforschung des Buddhismus), also einer verinnerlichten, beschaulichen Seite der Religion, die „hinter“ den Weltbewegungen die ewigen Prinzipien neu erkennt. Dieses mystische Interesse findet sich etwa in der Philosophie Schopenhauers oder später auch den Romanen von Hermann Hesse wieder. Zudem richtete man, angeregt durch die ethnologischen Forschungen, die Aufmerksamkeit auf den religiösen Kult, also die Feierformen der Religion und ihre Nebenerscheinungen in Volksglauben und Magie. Siegmund Freud beispielsweise waren die ethnologischen Forschungen ein Ausgangspunkt für die Entwicklung der Psychoanalyse und haben Künstler wie Max Ernst oder Pablo Picasso zu ihren Werken angeregt. Als drittes kommt ein Interesse am Mythos hinzu. Der Mythos war Ursprungsgeschichte, heilige Geschichte eines Volkes oder einer Kultur, die in kultischen Handlungen gegenwärtig gesetzt und verinnerlicht wurde. Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden philosophische Werke, die in der neugewonnen Sichtweise über das Religiöse und seine Ausdrücke nachdachten und auch in kirchlichen Kreisen intensiv rezipiert wurden. Hierzu zählt das 1917 erschienene Werk „Das Heilige“ von Rudolf Otto oder die „Philosophie der symbolischen Formen“ von Ernst Cassirer (1923).

Cassirer arbeitet im letztgenannten Werk in einer beeindruckenden Weise die Erkenntnisse der Altertums- und Völkergeschichte auf. Sein Leitmotiv ist die Erforschung der Symbolik, also der Phänomene, Riten, Mythen, der Sprache oder naturwisschaftlichen Formeln auf ihren Kern hin. Er schreibt: „Wenn alle Kultur sich in der Erschaffung bestimmter geistiger Bildwelten, bestimmter symbolischer Formen wirksam erweist, so besteht das Ziel der Philosophie nicht darin, hinter all diese Schöpfungen zurückzugehen, sondern vielmehr darin, sie in ihrem gestaltenden Grundprinzip zu verstehen und bewusst zu machen.“[2] Man kann vielleicht übersetzen: Die Art und Weise, wie eine bestimmte Gemeinschaft denkt, welche Überzeugungen sie teilt, drückt sich in den Zeichen aus, also in der Sprache, in den Gebräuchen, in der Ethik, im Alltagsleben und im Kultus einer Gemeinschaft, einer Kultur oder eines Volkes. Daher lassen die symbolischen Ausdrücke Rückschlüsse auf die „Denke“ einer Gemeinschaft zu. Die Riten oder auch die Sprache einer Kultur sind Ausdruck ihrer gemeinschaftlichen, oft auch unbewussten Überzeugungen. Cassirer führt zum Beispiel eindrucksvoll vor, wie viele verschiedene Weisen des Zählens sich in den Kulturen ausgeprägt haben. Sie sind im Zuge der Präferenzen und Lebensart der Gemeinschaften entstanden und spiegeln sich in ihnen.[3] Der Mythus kann dabei als eine Art „Uranschauung“ verstanden werden, als ein in Geschichte(n) gegossener Ausdruck einer Weltanschauung, auf die sich die einzelnen symbolischen Ausdrücke zurückführen lassen, besonders natürlich in den religiösen Riten[4], aber eben auch in der Art und Weise, wie eine Kultur lebt und ihr Alltagsleben und ihre Ethik gestaltet. Cassirer zitiert in diesem Zusammenhang den romantischen Philosophen Friedrich Schelling mit der Behauptung, dass kein Volk ohne Mythologie sein kann, die das gemeinschaftliche Bewusstsein prägt.[5]

Ein neuer theologischer Ansatz

Diese Form des „symbolischen“ Denkens ist für die Theologie der Zeit natürlich extrem anknüpfungsfähig. In der Verbindung von Mythos und Volk, das seine eigenen symbolischen Ausdrücke (Riten, Lehre, Ethik) als Symbole des inneren Glaubensgehalts ausprägt, ist leicht der Bezug des offenbarten Glaubens zur Kirche und ihren Lebensvollzügen zu erkennen. In den 1920er Jahren setzt sich die Metapher „Leib Christi“ für die Kirche durch und wird zum Markenzeichen des kirchlichen Aufbruchs. Die Kirche wird hier verstanden als der in der Welt sichtbare, also symbolische Ausdruck des fortlebenden, auferstandenen Christus durch den Heiligen Geist als Lebensprinzip. Dies bedeutet auch, dass die kirchliche Gemeinschaft, das „Volk Gottes“ in allen Lebensvollzügen auf das „mysterion“, also die Glaubensgeheimnisse hindeuten soll. Im Kern ist damit das Verständnis von „sakramental“ vorgeprägt, das sich in dieser Epoche durchsetzt.

Ein besonderer Ort der Anwendung des sakramentalen Denkens ist die Liturgie, also die Feierformen des Glaubens und seine Riten, zu denen auch die Sakramente selbst gehören. Der Benediktiner Odo Casel (1886-1948) entwickelte, angeregt durch die Erforschung der antiken Religionen, seine Mysterientheologie. Die Feier der Liturgie, vor allem der Eucharistie, sollte als vertiefte Vergegenwärtigung von Gottes Heilshandeln verstandenen werden und dies nicht bloß abstrakt theologisch, sondern auch existenziell. Die in der Liturgie Versammelten sollten sich Teilhabende am Erlösungshandeln Christi empfinden. Ein solches Programm ist sehr voraussetzungsvoll. Es erfordert, dass die Teilnehmer der Liturgie bereits einen inneren Weg im Glauben gegangen sind, also eine „mystagogische Einführung“ erfahren haben. Sie müssen bereits eine eigene „Mystik“, also eine tiefe Empfindung der Gottesnähe mitbringen und zudem in den theologischen Fragen geschult sein. Die sakramentale Feier lebt von einem verinnerlichten Glauben in der kirchlichen Gemeinschaft. Wer an der Liturgie teilnimmt, tut dies in einer „participatio actuosa“, also einer „aktiven Teilhabe“. Dies bedeutet im Kern (und gegen alle Missverständnisse), dass er oder sie selbst sich als „innerlich empfindende“ mit ihrem Glauben in die Feier einbringen und dieser nicht nur äußerlich oder gar mechanistisch „beiwohnen“. Zudem müssen die Riten angepasst und von Elementen gereinigt werden, die vom Inneren des Feierinhalts (dem „Mysterium“), wegführen. Für den einflussreichen liturgischen Vordenker dieser Zeit, Romano Guardini, beinhaltet dieser Grundsatz eine Reduktion in der Form, die den Ritus reiner und purer herausstellt. Folgerichtig wird die Kapelle an Guardinis Wirkungsstätte, der Burg Rothenfels, radikal umgestaltet und erhält eine Bauhaus-Ästhetik, in der alles ablenkende „Beiwerk“ entfällt. Guardini wird zum großen Erklärer der christlichen Symbolik. Er führt die christlichen Zeichenhandlungen und Riten, die Gegenstände und Materialien der christlichen Liturgie auf ihre Ursprünge zurück. Sie sind für ihn Ausdrücke allgemein menschlicher und christlich-religiöser Ur-Ideen und -Mythologie.[6] Guardini schreibt:

„Die Liturgie ist eine Welt heilig-verborgenen, aber immerfort Gestalt werdenden und darin sich offenbarenden Geschehens: sie ist sakramental. […] Was den Menschen auf jene Elemente [der Liturgie] anspricht, sollte [in der liturgischen Bildung] zum Schwingen gebracht werden. Es sollte deutlich werden, inwiefern sie ‚Zeichen‘ sind. Sie sollten wieder vom lebendigen Ausdrucksvorgang ergriffen werden, in welchem der Mensch aus den entgegentretenden Gestalten ihr verborgenes Innere auffasst; indem er seinerseits das eigene Innere ausdrückt. So würden sie aus konventionellen Formen wieder zu echt-erlebten Symbolen, zu Elementen des Sakraments und Sakramentales werden.“[7]             

Dieses „neue“ Denken der Sakramente mit ihrem untrennbaren Bezug zu Glauben und kirchlicher Gemeinschaft, das europaweit an unterschiedlichen Stellen in der sogenannten „Liturgischen Bewegung“ populär wird, setzt sich auf dem II. Vatikanischen Konzil in den 1960er Jahren durch. Zu den Grundsätzen der in der Folge des Konzils einsetzenden Reform der Riten gehören: (1.) Die Verstärkung der Möglichkeit zur „participatio actuosa“, also zur „aktiven Teilhabe“. Die Gläubigen sollen wirklich Teilnehmer und nicht bloß Zuschauer der Liturgie sein. Daher werden die Riten (2.) „zugänglicher“ gemacht und von allerhand Zusätzen „gereinigt“, die vom Kern der sakramentalen Feiern wegführen könnten. In diesem Zuge werden auch Möglichkeiten geschaffen, von der Liturgiesprache Latein abzuweichen. (3.) Die Sakramente werden nicht mehr so stark instrumentell verstanden. Sie sind eingebettet in eine kirchliche Feier und immer von Schriftlesungen und Gebeten umgeben, die auf den Kern der Vollzüge hinweisen sollen (sogar das Bußsakrament wird entsprechend überarbeitet). (4.) Die Heilige Schrift als Ur-Kunde des Glaubens wird deutlich stärker hervorgehoben. (5.) Die kirchlichen Feiern werden stärker mit der Glaubensverkündigung verbunden. So ist die Predigt an Sonn- und Festtagen nun vorgeschrieben. Auch bei Taufen, Trauungen oder bei der Krankensalbung sollen oder können erläuternde Katechesen erfolgen. (6.) Der „mystagogische“ Zugang zu den Sakramenten wird gefördert. Wer die Sakramente empfangen will, soll darauf angemessen vorbereitet werden, so dass sie vom Glauben und vom Verständnis die Feier mitvollzogen werden können. Das „Katechumenat“, also die schrittweise Vorbereitung erwachsener Taufbewerber, wird wieder eingeführt. Auch vor der Erstkommunion, der Erstbeichte, der Firmung, der Trauung und erst Recht der Weihe soll eine angemessene katechetische Vorbereitung erfolgen.


[1] Einige Grundzüge dazu habe ich an anderer Stelle bereits skizziert: Wanderer unterm Genderstern – Teil 2 – Sensus fidei

[2] Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, Hamburg 2010 (original 1923), 49.

[3] Cassirer, Bd. 1, 182-211.

[4] Cassirer, Bd. 2, 131ff.

[5] Cassirer, Bd. 2, 207.

[6] Roman Guardini, Vom Geist der Liturgie, Paderborn 1997 (original 1918), 49-56.

[7] Romano Guardini, Von heiligen Zeichen, Mainz 1966 (original 1927), 8. S. für einen aktuellen Ansatz im Geist Guardinis: Isabella Guanzini, Eine Ästhetik des Sakraments, in: Wirksame Zeichen, 79-101.

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