Der Zigarettenstummel
Wir haben also von starken Zeichen oder Symbolen gesprochen. Sie sind insofern stark, als dass sie eine unsichtbare Wirklichkeit vermitteln, die in ihnen zum Ausdruck kommt. Der brasilianische Theologe Leonardo Boff hat in den 1970er Jahren ein vielgelesenes Büchlein mit dem Titel „Kleine Sakramentenlehre“ geschrieben, in dem er den hergebrachten Sakramentenbegriff neu zugänglich zu machen versuchte. Er erzählte darin die folgende biografische Begebenheit[1]: Während seines Studiums in Deutschland erhielt Boff die Nachricht, dass sein von ihm sehr geliebter und verehrter Vater in Brasilien verstorben war. Wenige Tage darauf sandte ihm ein Freund in einem Briefumschlag den Stummel einer Strohzigarette zu. Es war der Rest der letzten Zigarette, die sein Vater vor seinem Tod geraucht hatte. Boff schrieb, dass er den Zigarettenstummel wie einen Schatz aufbewahre. Eine Erinnerung an den Verstorbenen, könnte man sagen – aber Boff stellte eine andere Frage:
„Könnte man nicht sagen, dass auch der Stummel einer Strohzigarette zu einem Sakrament werden kann? Er liegt hinten in der Schublade. Dann und wann wird das Glasschächtelchen [mit dem Zigarettenstummel] geöffnet. Ein Duft strömt aus. Es entstehen die Farben einer lebendigen Vergangenheit. […] Die Augen des Geistes sehen die väterliche Gestalt lebendig vor sich. Der Stummel der Strohzigarette lässt sie gegenwärtig werden, wie sie das Stroh schneidet, den Tabak rollt, das Feuerzeug anzündet, lang an der Zigarette zieht, unterrichtet, Zeitung liest […] und dabei raucht. Die letzte Zigarette erlosch mit dem sterblichen Leben. Aber dennoch: Etwas brennt irgendwie noch immer, aufgrund der Zigarette.“[2]
Die Zigarette wird bei Boff zu einer Art sprechendem Symbol für eine unsichtbare Dimension (die Erinnerung an den Vater). Das Symbol ist für Boff in der Lage, die Erinnerung immer wieder heraufzubeschwören. Der verstorbene Vater ist in gewisser Weise im Symbol anwesend. Boff wird bei der Wahl seines Beispiels sicher an den Theologie seiner Zeit sehr gebräuchlichen Begriff des „Realsymbols“ gedacht haben. Als Realsymbol wird hier das verstanden, was ich zunächst ein „starkes“ Symbol genannt hatte, nämlich eines, das eine verborgene Wirklichkeit enthält. Das klassische Beispiel für das Realsymbol ist die rote Rose, die der Liebhaber an seine Geliebte überreicht. In ihr soll die Liebe, die er empfindet zum Ausdruck gebracht werden. Die Liebe selbst ist als Gefühl ja nicht direkt übermittelbar. Sie muss sich bei der Übermittlung an eine andere Person in Worten und Zeichen ausdrücken, in Liebesbriefen, Geschenken, Komplimenten, Umarmungen oder Küssen. Boff bezeichnet nun solche Symbole als „Sakramente“ und meint damit allgemein: Der Mensch kann unter eigentlich allen Dingen und Handlungen der Welt einen symbolischen Ausdruck entdecken. Bestimmte Dinge und Zeichen sprechen zu ihm, erschließen ihm eine verborgene Wirklichkeit. So ist erst einmal die ganze Welt in einem allgemeinen Sinne sakramental, d.h. sie ist eine Symbolwelt, die uns das Verborgene erschließt und eröffnet.
Ich vermute einmal, dass Leonardo Boff bei seinem Sakramentenbegriff bei Karl Rahner, einem seiner theologischen Lehrer anknüpft. Rahners Gedanke war (etwas vergröbert) der Folgende[3]: Gott ist der Schöpfer der Welt. Er selbst ist aber nie Teil der Welt. Als Schöpfer erhält er seine liebende Fürsorge gegenüber seiner Schöpfung beständig aufrecht (im Heiligen Geist). Diese liebende Fürsorge kann mit dem Begriff „Gnade“ bezeichnet werden. Gott steht mit der Schöpfung und dem Menschen in einer gnadenhaften Beziehung. Wo der Mensch Gott erfahren kann, macht er eine Erfahrung der Gnade. Der Mensch erfährt sich als von Gott angenommen, geliebt und begabt. Alles, was uns begegnet, kann zu einem Ausdruck, einem Symbol oder Verweis auf Gott werden. Die Natur, ein anderer Mensch, ein Ereignis, eine Erfahrung, ein Kunstwerk kann in einem religiösen Sinn zu mir sprechen. Als Mensch, der für diese Dimension Gottes empfänglich ist, kann ich im Zeichen oder in der Zeichenhandlung Gottes Gnade entdecken. Potentiell ist jeder Mensch für diese Erfahrung begabt.
Dieser Gedankengang geht auf die mittelalterliche Unterscheidung von „natürlicher“ und „übernatürlicher“ Ordnung zurück. Mit „natürlicher“ Ordnung ist die Beschaffenheit der Welt und des Menschen als Schöpfung gemeint. Auch ohne, dass sich Gott den Menschen in besonderer („übernatürlicher“) Weise mitteilt, kann der Mensch kraft seiner Vernunft und seiner Erkenntnis aus der Schöpfung auf die Existenz Gottes schließen und diese erfahren. „Übernatürlich“ meint dann die Erkenntnis und das Wissen von Gott, das durch die Offenbarung erfolgt, also durch das Wort Gottes, das uns in der Heiligen Schrift in der Glaubenstradition weitergegeben erreicht. Rahner spricht daher von Jesus Christus als dem „Ursakrament“ Gottes, also dem grundlegenden Zeichen, dem „Leseschlüssel“, der Mittelpunkt der „übernatürlichen“ Offenbarung Gottes ist. In Ableitung dazu nennt er die Kirche, also die Gemeinschaft, welche die Präsenz Gottes in der Welt bezeugt, das „Grundsakrament“. Die Kirche ist als ganze ein Realsymbol, ein Verweis auf Gottes Dasein und die göttliche Gnade. Aus dieser sakramentalen Wirklichkeit der ganzen Kirche leiten sich dann auch die einzelnen Sakramente als besondere kirchliche Zeichen der Gnade Gottes ab. [4]
Leonardo Boff (der mit dem „Zigarettenstummel“) führt hier den Begriff „Sakrament“ etwas anders ein. Er möchte die Wirklichkeit der „natürlichen Ordnung“, also die Dinge der Welt als „sakramental“ verstehen, da sie zeichenhaft auf Gott hindeuten können. In Ergänzung dazu sieht er die Kirche und ihre Sakramente als spezifische Ausdrücke der Offenbarung durch Christus, oder, wie ich sagen würde, der „übernatürlichen“ Ordnung. Boff erfindet hier den Begriff „sakramentell“, um beide Dimensionen voneinander zu unterscheiden.[5]
[1] Leonardo Boff, Kleine Sakramentenlehre, Düsseldorf 1976, 27-33.
[2] Ebd. 32f.
[3] Vgl. hierzu Karl Rahner, Grundkurs der Glaubens, Freiburg 1976, 88-93, 132ff.
[4] Rahner, Grundkurs, 396ff.; s. auch Herbert Vorgrimler, Sakramententheologie, Düsseldorf 1992 (original 1987), 43-57.
[5] Boff entwickelt diesen Gedanken in seiner Doktorarbeit: Leonardo Boff, Die Kirche als Sakrament im Horizont der Welterfahrung, Paderborn 1972, 127-143.
“
Das Wort Sakrament stammt vom kirchenlateinischen Begriff sacramentum „Heilszeichen, Heilsmittel, Heilsweg, sichtbares Zeichen der verborgenen Heilswirklichkeit“ ab. Die lateinische Wurzel sacer bedeutet „heilig, unverletzlich“.
„Wirksame Zeichen dafür, dass Gott das Heil der Menschen will“:
Das ist eine sehr kurze Formel für das, was „Sakramente“ im Leben der Kirche und der einzelnen Menschen sind.
Sakramente verbinden den Menschen intensiv mit Gott; sie antworten jeweils auf Fragen des Lebens in seinen verschiedenen Phasen.
Zu den Sakramenten gehören
die Taufe: Die Taufe schafft eine grundlegende Bindung des Menschen zu Gott. Sie vermittelt Gemeinschaft mit Jesus und verbindet mit der Glaubensgemeinschaft Kirche.
die Eucharistie: Die Eucharistie lässt den Menschen immer wieder neu am göttlichen Leben teil haben. Sie stärkt ihn für ein Leben aus dem Geist Jesu.
das Bußsakrament: Die Buße (Beichte) schafft Versöhnung zwischen Gott und Mensch dadurch, dass sie ein Raum der Vergebung, der Umkehr und des Neubeginns öffnet.
die Firmung: Die Firmung besiegelt die Taufe: Gott spricht erneut sein Ja zu einem Menschen, und der Mensch bekennt sich nun eigenverantwortlich zum Glauben.
die Ehe: Die Ehe stärkt das liebende Sich-Beschenken zweier Partner durch die grundlegende Liebe Gottes zum Menschen.
die Priesterweihe: Die Priesterweihe stärkt einen Menschen zum Dienst an der Gemeinschaft der Glaubenden und zur Verkündigung des Evangeliums Christi.
die Krankensalbung: Die Krankensalbung stärkt das Vertrauen, bei Gott auch in schwerer Krankheit geborgen zu sein.“
Im Lateinischen bedeutet ritus in erster Linie eine religiöse Vorschrift oder Zeremonie, im übertragenen Sinne aber auch Brauch, Sitte oder Gewohnheit im Allgemeinen; im Ablativ (ritu) kann man das Wort auch einfach mit „wie“ oder „nach Art von xy“ (wörtlich: „dem Ritus xy entsprechend“) übersetzen.
Mit „Vater“ meinen sie den Schöpfer aller Lebewesen und Dinge. Der „Sohn“ ist Jesus Christus, der Mensch geworden ist. Der „Heilige Geist“ schenkt Weisheit, den Glauben und die Liebe zwischen Gott und den Menschen. Gott hat also drei verschiedene „Zustände“ und bleibt doch immer Gott.
Im Neuen Testament kommt die Dreieinigkeit Gottes noch nicht vor, jedenfalls nicht in ausgearbeiteter Form. Die Trinität ist also nicht „Wort Gottes”, sondern ein Produkt menschlichen Denkens, das erst nach Abschluss des Bibelkanons entwickelt wurde.11.06.2019
****
Der Dreistigkeit fehlt das Weibliche
ohne die unteilbare Würde der Frau
gibt es kein menschliches Wesen
LikeLike