Krebssee [zum 3. Advent]

Wer wissen möchte, wie die römischen Kaiser ausgesehen haben, kann ihre Portraitbüsten studieren. Die Bildhauer der Zeit haben sehr gute Abbilder von ihnen geschaffen. Allerdings geht es noch besser. Ich fand neulich KI-generierte Videos, in denen die Statuen zum Leben erweckt wurden. Aus den Marmorbüsten wurden Gesichter, ja ganze Menschen, die sich im Video bewegten. Man konnte sich Augustus, Nero oder Hadrian so sehr bildhaft vorstellen. Das war auf der einen Seite sehr faszinierend, auf der anderen Seite aber auch ein wenig enttäuschend. Plötzlich sahen die römischen Kaiser, diese berühmten, hehren Gestalten aus dem Geschichtsunterricht auf einmal aus wie du und ich, wie ganz normale Menschen. Wenn Kaiser Augustus mit heute beim Spazierengehen in der Stadt in heutiger Kleidung entgegenkäme – ich würde ihn nicht erkennen.

Dieser Effekt wird bezogen auf Johannes den Täufer auch im Evangelium beschrieben. Die Leute haben die Erzählungen gehört vom großen Propheten, einem Mann wie Elija, der irgendwann eintreffen würde, um das Kommen des Messias und das Ende der Zeiten zu verkündigen. Und dann kommt ein Prophet, offensichtlich von nicht sehr schöner und beeindruckender Gestalt. Er steht dort in der Wüste, gekleidet wie ein Asket. Die Leute fragen sich: Kann eine solche Gestalt wirklich der verheißene große Mann Gottes sein? Die Leute fragen Jesus. Dieser antwortet mit einer Gegenfrage: Wen habt ihr denn sehen wollen? Einen Mann, der schlicht dem Bild entspricht, das ihr euch vorher von ihm gemacht hat? Was spricht dagegen, dass dieser Johannes tatsächlich der verheißene Prophet ist. Die gleiche Frage der Leute ergeht offensichtlich auch an Jesus selbst: Sollte dieser Sohn des Zimmermanns wirklich der Messias sein. Hatten wir uns einen endzeitlichen König nicht ein wenig anders vorgestellt? Dass diese beiden für die Zeitgenossen vielleicht eher unscheinbaren Männer tatsächlich die Erfüllung der großen Verheißung Gottes bedeuten, das lässt sich vom Augenschein allein kaum beurteilen.

Das ist an sich nichts Ungewöhnliches. Denken Sie an Menschen, an Dinge oder Worte zurück, die für Sie besonders wichtig sind. Mir ist z.B. ein besonderer Ort eingefallen. Als ich 14 Jahre alt war, nahm ich an einer Fahrt mit Gleichaltrigen aus unserer Gemeinde teil. Wir fuhren nicht weit weg, in ein Jugendhaus in Gudow, ganz im Osten von Schleswig-Holstein. Während der Zeit, die wir dort verbrachten, machten wir uns mehrere Male mit den Fahrrädern auf den Weg zu einem kleinen Waldsee in der Nähe, dem Krebssee. Es ist ein See, wie es ihn hier bei uns bestimmt hundertfach gibt. Wir gingen schwimmen, machten Picknick, unterhielten uns.

Vor ein paar Jahren war ich zufällig in der Gegend und hatte die Idee, diesen Ort zu besuchen. Es war etwas mühsam, ihn zu finden. Es gibt dort eine ganze Reihe ähnlicher Seen. Ich musste ein paar Kilometer durch den Wald wandern, der wie jeder andere Wald auf mich wirkte. Doch dann mündete der Weg an einem kleinen Sandstrand. Dahinter lag der See, kleiner als ich ihn Erinnerung hatte. Er lag dort ruhig und dunkel, umgeben von großen Bäumen. Die Wirkung dieses Eindrucks war verblüffend. Mit einem Mal hatte ich das Gefühl von damals, vor 30 Jahren wieder, sah mich mit den anderen dort sitzen und spürte das ruhige Wasser um mich herum, das ich damals beim Schwimmen durchquert hatte. Der See hatte einen eigenartigen Zauber bewahrt. Im Nachhinein würde ich sagen: Diese Tage damals hatten sich wohl so lebendig erhalten, weil ich sie als ein Inbegriff von Sommer, Unbeschwertheit, vielleicht auch von anfanghaftem Erwachsenwerden, von Freundschaft und Schönheit aufgehoben hatte. Der Ort hatte für mich Bedeutung, dort wo andere wahrscheinlich gesagt hätten: „Guck mal, da ist noch so ein Teich.“

Erst die Geschichte und die Erfahrung zeigt die wahre Bedeutung der Dinge. Die Größe des Johannes und erst recht die Größe Jesu lässt sich erst aus der Begegnung heraus beurteilen. Wer ist das für mich? Welche Erfahrungen habe ich mit ihm gemacht?

Die Texte des Advents versuchen, die Bedeutung Jesu zu umkreisen. Die Propheten verkündigen seine Ankunft. Sie erzählen vom großen Frieden, von Gottes Wohnen unter den Menschen, von der Versöhnung. Diese Worte sind schön, sie bekommen aber erst Bedeutung, wenn ich sie unter dem Vorzeichen einer Erfahrung lesen kann. Wer Jesus wirklich ist, werde ich erst beantworten, wenn ich eine Begegnung, einen persönlichen Eindruck von ihm gewonnen habe. Seine Größe ist anders kaum zu ermessen.   

3 Kommentare zu „Krebssee [zum 3. Advent]

  1. Zu dem Satz „Aus den Marmorbüsten wurden Gesichter, ja ganze Menschen, die sich im Video bewegten.“ eine kleine Anmerkung:

    Mich erinnert dieser Satz an ein Gemälde von René Magritte, unter das er den Text gesetzt hat „Ceci n’est pas une pipe“ (Dies ist keine Pfeife).

    Auf dem Gemälde sieht man die fotorealistische Darstellung einer Pfeife — aber eben keine Pfeife. Es ist (nur) das Bild einer Pfeife.

    Vergleichbar verhält es sich mit KI-generierten Bildern und Videos (und auch Texten), so realistisch diese auch daherkommen mögen: Es sind Bilder (und maschinengenerierte Texte).

    Insbesondere bei (vermeintlichen) „Social-Media“-Freunden sollte man sich dessen stets bewusst sein: bei manchen handelt es sich womöglich nur um einen Computer, der in einem Rechenzentrum steht, eine Maschine ohne Bewusstsein, ohne persönliche Erfahrungen und Erlebnisse, ohne Stoffwechsel und somit ohne die Gemütsschwankungen, die wir Menschen kennen — eine Maschine, die nichts von sich weiß und die nicht weiß was sie sagt oder schreibt, eine Maschine, die man nicht zum Essen, zum Spielen oder auf ein Wirtshausgespräch einladen kann.

    Eckhardt Kiwitt, Freising

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  2. Durch Ihre Gedanken bei der Morgenandacht (Dlf) in der vergangenen Woche habe ich auch diesen Blog von Ihnen entdeckt. Ich möchte mich bei Ihnen herzlich bedanken für die vielen wertvollen geistlichen Impulse und Anregungen!

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