Im Herbst

Zeit für ein wenig herbstliche Melancholie. Mitte Oktober ist der Herbst am schönsten. Dies gilt besonders wenn die Sonne scheint – Zeit für einen Spaziergang. Die Bäume leuchten in bunten Farben. Das Herbstlaub gibt unserer Landschaft einen neuen Charakter. Psychologen behaupten, dass Herbst-Liebhaber besonders kreativ seien – allerdings auch eher introvertiert. Ob das stimmt, sei dahingestellt. Zumindest hat die dritte Jahreszeit die Dichter immer schon zu sentimentalen Betrachtungen angeregt. Entweder ist der Herbst ein Nachklang des Sommers, oder ein Vorbote des Winters und damit der Vergänglichkeit. Hermann Hesse beschreibt dies in seinem Gedicht „Baum im Herbst“:

Noch ringt verzweifelt mit den kalten / Oktobernächten um sein grünes Kleid / mein Baum. Er liebt´s, ihm ist es leid, / er trug es fröhliche Monde lang, / er möchte es gern behalten.

Und wieder eine Nacht, und wieder / ein rauer Tag. Der Baum wird matt / und kämpft nicht mehr und gibt die Glieder / gelöst dem fremden Willen hin, / bis der ihn ganz bezwungen hat.

Nun aber lacht er golden rot / und ruht im Blauen tief beglückt. / Da er sich müd dem Sterben bot, / hat ihn der Herbst, der milde Herbst / zu neuer Herrlichkeit geschmückt.

Bei Hesse wird der Herbst zu einem unverhofften Ereignis. Der im Gedicht beschriebene Baum hat bereits vor der Kälte und dem Sturm kapituliert. Er entscheidet sich, „loszulassen“, sein Laub und damit sein Leben aufzugeben. Doch stattdessen geschieht das kleine Wunder. Das herbstliche Erblühen des Baumes, seine bunte Färbung, lässt ihn unerwartet noch einmal in voller Schönheit erscheinen. Der „Baum“ und sein Schicksal werden hier zum Bild des Lebens, auch des menschlichen Lebens. Auf dessen starke Zeit folgt eben nicht einfach der Tod, sondern eine Verwandlung in Schönheit.

Metaphorisch sprechen wir daher auch vom „Herbst des Lebens“. Die Franzosen haben für das Alter in Anlehnung an die Jahreszeiten den Begriff „troisième age“ (drittes Alter) eingeführt. Was ist dieses dritte Alter? Ein Nachklang des Sommers oder ein Vorbote des Winters? Ich habe manchmal den Eindruck, als ob das Alter etwas sei, das man verstecken müsste. In den Medien begegnen mir immer wieder Berichte über Senioren, die in Chören die neuesten Popsongs singen oder Marathon laufen. Das Alter wird hier als zweite Jugend dargestellt. Es ist sicher gut, dem Älterwerden Positives abzugewinnen. Wer alt ist muss damit noch lange nicht „von gestern“ sein. Allerdings scheint mir die behauptete juvenile Hippness der Alten wenig erstrebenswert. Ein alter Mensch muss doch Anerkennung finden dürfen, wenn er das sein kann, was er ist und sich dafür nicht zur Karikatur eines Teenies zu machen braucht. Herbst und Frühling sind unterschiedliche Jahreszeiten.

Wir können es auch anders denken. Wir sagen, dass die Natur im Herbst zu einzigartiger Schönheit kommt. Sie zeigt sich in gewandelter und unvergleichlicher Gestalt. Gerade die Anzeichen des Vergehens rufen diese Schönheit hervor. Wäre es vermessen, so vom Alter zu denken, in dem die Persönlichkeit eines Menschen, seine Geschichte und seine Erfahrung in einzigartiger Weise hervortreten? Die Bibel spricht von der Weisheit als einem besonderen Privileg der Alten (Dtn 32,7). Aus ihrer Perspektive lässt sich das Leben mit anderen Augen sehen und verstehen. Vielleicht kann in diesen Tagen neben dem Herbstspaziergang ein Gespräch mit einem alten Menschen besonders schön und bereichernd sein.

    

Mit der herbstlichen Verwandlung verbindet sich daher ein weiteres Lebensmotiv. Das deutsche Wort „Herbst“ leitet sich von einem Mittelhochdeutschen Stamm des Wortes „Ernte“ ab, im Englischen „harvest“. Der Herbst ist die Erntezeit. Dies gilt im landwirtschaftlichen Sinn, aber auch im bildlichen. Die Ernte ist biblisch die Zeit der Unterscheidung und der Lebensbilanz. Sie taucht in den Gerichtsgleichnissen Jesu als fester Topos auf:

Jesus legte ihnen ein anderes Gleichnis vor: Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Mann, der guten Samen auf seinen Acker säte. Während nun die Menschen schliefen, kam sein Feind, säte Unkraut unter den Weizen und ging weg. Als die Saat aufging und sich die Ähren bildeten, kam auch das Unkraut zum Vorschein. Da gingen die Knechte zu dem Gutsherrn und sagten: Herr, hast du nicht guten Samen auf deinen Acker gesät? Woher kommt dann das Unkraut? Er antwortete: Das hat ein Feind getan. Da sagten die Knechte zu ihm: Sollen wir gehen und es ausreißen? Er entgegnete: Nein, damit ihr nicht zusammen mit dem Unkraut den Weizen ausreißt. Lasst beides wachsen bis zur Ernte und zur Zeit der Ernte werde ich den Schnittern sagen: Sammelt zuerst das Unkraut und bindet es in Bündel, um es zu verbrennen; den Weizen aber bringt in meine Scheune! Dann verließ er die Menge und ging in das Haus. Und seine Jünger kamen zu ihm und sagten: Erkläre uns das Gleichnis vom Unkraut auf dem Acker! Er antwortete: Der den guten Samen sät, ist der Menschensohn; der Acker ist die Welt; der gute Samen, das sind die Kinder des Reiches; das Unkraut sind die Kinder des Bösen; der Feind, der es gesät hat, ist der Teufel; die Ernte ist das Ende der Welt; die Schnitter sind die Engel. Wie nun das Unkraut aufgesammelt und im Feuer verbrannt wird, so wird es auch bei dem Ende der Welt sein: Der Menschensohn wird seine Engel aussenden und sie werden aus seinem Reich alle zusammenholen, die andere verführt und Gesetzloses getan haben, und werden sie in den Feuerofen werfen. Dort wird Heulen und Zähneknirschen sein. Dann werden die Gerechten im Reich ihres Vaters wie die Sonne leuchten. Wer Ohren hat, der höre! (Mt 13,24-30, 36-43)

Das Gleichnis legt die Erntezeit als Zeit der Unterscheidung aus. Der Herbst wird so zu einer nachdenklichen Periode der eigenen Lebensbilanz, in der Weizen und Unkraut unterschieden werden sollen. Er bietet gewissermaßen die letzte Gelegenheit zur Korrektur und zur Reinigung. So gesehen, ist Jesus heilsgeschichtlich derjenige, der Anbruch des Weltherbstes verkündigt. Jetzt ist noch einmal Gelegenheit, jetzt ist noch einmal Zeit. Diese Zeit nicht nutzlos verstreichen zu lassen, davon handeln sehr viele Passagen der Evangelien. Die Frage des Herbstes ist, ob er in einen ewigen Winter oder einen neuen Frühling münden soll. Aus dem noch einmal bunt leuchtenden Baum soll schließlich einmal wieder junges Grün sprießen. Es ist eine Frage der Hoffnung. Auch sie kann im Herbst geerntet werden. Aus der herbstlichen Schönheit soll wieder neue Schönheit werden.

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