Erinnern Sie sich noch häufig an die Corona-Jahre? Mir ist diese Zeit in mehreren Gesprächen der letzten Wochen wieder präsent geworden. Offensichtlich haben doch einige das Bedürfnis, noch einmal zurückzuschauen und für sich eine Bilanz ziehen zu wollen. Ich denke vor allem an die heftigen Auseinandersetzungen über die Kontakt- und Hygieneregeln zurück. Diese Auseinandersetzungen haben ja Familien oder auch Freundeskreise regelrecht gespalten. Beim Lesen des heutigen Evangeliums vom guten Hirten (Joh 10,1-10) sind mir diese Streitigkeiten noch einmal in unangenehmer Weise präsent geworden. Es gab schließlich sehr vehemente Gegner der staatlichen Regelungen. Einige von ihnen nutzten genau das Bild vom Hirten und der Herde, um ihrem Protest Ausdruck zu verleihen. Sie warfen denen, die sich an Regeln und Beschränkungen hielten vor, wie Schafe zu sein, die blind einer staatlichen Obrigkeit folgen, schlechten Hirten, die genau das Falsche verlangten. Sie fühlten sich bevormundet und schlecht geführt.
Ich weiß nicht, ob es diesen Leuten bewusst war, dass sie hier ein Bild aufnahmen, das aus dem biblischen Gebrauch stammt, aber in einer langen Tradition auch gegen das Christentum verwendet wurde. Friedrich Nietzsche benutzte das Hirten-Bild für seine Theorie vom Übermenschen. Er warf den Menschen vor, in ihrer Entwicklung bei den Herdentieren stehengeblieben zu sein. Die Menschen, so sagt der Philosoph, hätten sich zu gefügigen Wesen staatlicher, gesellschaftlicher und auch kirchlicher Autoritäten gemacht. Das Prinzip von Hirt und Herde müsse endlich überwunden werden. Der Mensch müsse sich evolutiv zum Übermenschen weiterentwickeln. Als solcher würde er alle vorgegebenen Ordnungen abstreifen. Der Übermensch ist sein eigener Gesetzgeber. Er ist unabhängig von den anderen Menschen und von der Gesellschaft geworden. Der Übermensch definiert seine eigene Moral. Er überwindet die gängigen Vorstellungen von „gut“ und „richtig“. Nietzsche attackierte etwa die „Nächstenliebe“ als eine schwächliche Vorstellung. Warum, so fragte er, solle man sich um irgendwelche mir vielleicht sogar fremden Menschen kümmern? Warum sollte mich das Leiden eines anderen Menschen betreffen? Echte Liebe ist bei Nietzsche zunächst einmal Selbstliebe in größtmöglicher Unabhängigkeit, fern von allem, was die freie Entfaltung des Menschen beeinflussen möchte.
Damit zielt Nietzsche auf einen Kern des Christentums. Denn gerade die Rede von Jesus als gutem Hirten drückt ja ein Grundprinzip aus. Dieses Prinzip sagt, dass es über dem einzelnen menschlichen Wesen und über seinem Willen noch eine höhere Instanz gibt. Die höhere Instanz, Gott, der sich Christus vermittelt verspricht das Leben in Fülle, also ein gelingendes Leben, für das er den Weg zeigen möchte. Für einen gläubigen Menschen klingt das nicht ungewöhnlich. Sobald ich an einen Gott glaube, der mich zum Guten führen möchte, bin ich auch bereit, mein Leben und meine Entscheidungen vor Gott zu überdenken und bei ihm nach Orientierung zu suchen. Aber auch diejenigen, die nicht gläubig sind, haben häufig einen Sinn für eine solche höhere Instanz des Lebens und der Moral. Es ist nicht alles für mich persönlich verfügbar. Es gibt Regeln, die schon aus rein praktischen Gründen eines guten Zusammenlebens einen höheren Wert haben und nicht angetastet werden sollten.
Wie weit geht also meine persönliche Freiheit und wie weit muss sie notwendigerweise eingeschränkt oder relativiert werden? Das ist die Kernfrage fast aller ethischer Auseinandersetzungen unserer Zeit. Aktuell findet sie sich in der Debatte um die Sterbehilfe wieder. Der Bundestag wird im Juni über eine Liberalisierung in dieser Frage entscheiden. Und die Argumente laufen auf eine Grundfrage zu: Gilt meine individuelle Freiheit hier, in dieser Situation absolut, so dass ich frei über meinen Tod entscheiden können muss, vielmehr, sogar ein Recht darauf habe, dass andere mich dabei unterstützen müssen? Oder gibt es ein übergeordnetes Prinzip des Lebens, das bedingungslos anzuerkennen ist und der Entscheidung des Einzelnen übergeordnet werden kann? In diesem Fall ist das Leben eines Menschen unverfügbar. Ich darf es nicht auslöschen, selbst, wenn ich darum gebeten werde. Die Gegner eines solchen Gedankens verweisen auf schwere medizinische Härtefälle. Die Befürworter fragen nach den Bedingungen der Sterbehilfe. Wie etwa kann der Wille eines Menschen zu sterben einwandfrei nachgewiesen werden? Und ist Schritt der Liberalisierung der Gesetzeslage nicht ein weiteres Aufweichen des Lebensschutzes insgesamt? Gehen wir nicht zu sorglos mit den Grundlagen unserer ethischen Kultur um? Vor diesem Hintergrund lese ich das Evangelium vom guten Hirten als eine Erinnerung. Es erinnert mich daran, dass ich mich als Mensch der Liebe Gottes verdanke. Ich erinnere mich an das Prinzip des Lebens in Fülle zu dem ich bestimmt bin, des Lebens als ungeschuldetes Geschenk an mich, aber auch an die anderen Menschen. Ich habe nicht das Recht, es anderen zu nehmen. Es ist ein Anderer, Höherer der über es bestimmen darf. Damit werde ich noch längst nicht willenlosen Herdenmenschen. Aber ich weiß, im Bild des Evangeliums gesprochen, auf welche Stimme ich hören möchte, weil sie mich zur Fülle und zum Guten führen will.
Die Gesetze der Seele
sind so alt wie
die Menschheit selbst
LikeLike