Ein Anderer

Man kann die Leute von Nazareth vielleicht verstehen (Lk 4,21-30). Als Jesus das erste Mal nach seiner Taufe in der Synagoge das Wort nimmt, ist die Verwunderung groß. Er liest einen Text aus dem Propheten Jesaja, der die kommende Heilszeit ankündigt: Die Blinden können wieder sehen, die Tauben hören, die Gefangenen werden frei. Dann behauptet er: In mir wird sich diese Heilszeit erfüllen. In diesem Augenblick herrscht großes Erstaunen. „Woher hat er das? Das ist doch der Sohn Josefs, wir kennen ihn doch. Wie kann er solche Dinge behaupten?“ In das Staunen wird sich einiges an Zweifel gemischt haben. Jesus merkt offenbar die stumme Aufforderung, die in den Reaktionen seiner Nachbarn liegt, der Bekannten, der Leute aus dem Städtchen. Sie wollen einen Beweis für seine Behauptung haben. Soll er doch eines der Wunder wirken, die er angekündigt hat, einen Blinden oder Stummen heilen, einen Gefangenen befreien. Wir wissen nicht genau, was Jesus hemmt, das zu tun. Er kündigt der Synagogengemeinde an, Zeichen zu tun, aber nicht hier in Nazareth. Die Zeichen werden an anderer Stelle und bei anderen Gelegenheiten geschehen. Diese Antwort entfacht die Wut der Leute. Sie halten ihn offenbar für einen falschen Propheten, einen Wichtigtuer oder schlicht für anmaßend und wollen ihn aus der Stadt herausdrängen.

Man kann diese Szene vielleicht so verstehen: Jesus bricht mit seiner Heimat. Nach seiner Taufe und der langen Zeit in der Wüste ist er nicht mehr derselbe. Jetzt beginnt die Zeit seiner Wanderschaft und zugleich die Zeit, in der er sich Stufe um Stufe den Menschen als Gottes Sohn offenbaren wird. Den Menschen von Nazareth fehlt noch etwas Entscheidendes. Es wird dauern, bis sie verstehen können, was an diesem Tag in der Synagoge passiert ist. Was also muss bei den Leuten in Nazareth noch geschehen?

Es ist schon ein paar Jahre her, als ich im Radio während der Autofahrt einen Song hörte, der mit hierzu etwas erschlossen hat. Mir ist es fast ein wenig unangenehm, davon zu erzählen, denn das Lied ist nicht gerade eine musikalische Meisterleistung.[1] Aber seine Geschichte ist schön. Es heißt „Cinderella“, ist also nach dem amerikanischen Namen für die Märchenfigur „Aschenputtel“ benannt. Ein Vater erzählt, wie er an einem Abend nach der Arbeit von seiner Tochter um etwas gebeten wird. Sie sagt, dass sie nachher noch zu einer Party gehen wolle und bittet ihn, mit ihr quasi als Einstimmung schon einmal zu tanzen. In der nächsten Strophe steht die Tochter kurz vor ihrer Schulabschlussfeier. Der Vater soll für den Festball mit ihr noch einmal das Tanzen üben. Die dritte Strophe spielt dann kurz vor der Hochzeit. Der Hochzeitstanz steht an und wieder bittet die Tochter ihren Vater, noch einmal mit ihr zu tanzen. Und im Refrain singt der Vater dann immer wieder: „Und ich tanze mit meiner Cinderella, aber ich weiß etwas, das der Prinz im Märchen nicht wusste. Ich weiß, dass bald die Glocke schlägt und sie wird gegangen sein.“ Der Tanz ist ein Bild für den Wunsch, dass alles bleiben könnte, wie es ist. Der Prinz im Märchen steht nach dem Tanz alleine da. Cinderella ist fort und sie hat sich in jemand anderen verwandelt. Es ist natürlich das Lied eines Vaters, der erkennt, dass seine Tochter groß geworden ist, dass sie sich zu einem anderen Menschen gewandelt hat, dass sie ihre eigenen Wege gehen wird. Und im Moment des Tanzes ist alles da, die Erinnerung, der Abschiedsschmerz aber zugleich auch das Wissen, dass es gut so ist und nicht anders sein soll. Der Vater muss seine Tochter in anderer Gestalt anerkennen und loslassen.

Bei den Menschen in Nazareth steht dieser Schritt noch aus. Sie erkennen in Jesus den ganz Anderen noch nicht. Sie verstehen noch nicht, wie er sich gewandelt hat. Im Evangelium ist später das Wunder immer eine Antwort auf den Glauben. Erst die, die Gott anerkennen, der ihnen in Jesus entgegenkommt, werden geheilt oder befreit. Hier läuft die Trennlinie des Glaubens. Wer bereit ist, mehr zu sehen, das Größere in Jesus anzuerkennen, sich ihm anzuvertrauen, nach der Zuwendung Gottes zu verlangen, kommt vom Sehen zum Glauben. Es ist für die Leute von Nazareth Zeit, den alten Jesus, den sie kennen, loszulassen und den neuen zu erkennen. Als dann der Zeitpunkt gekommen ist, verlässt sie daher der alte Jesus, geht durch die Menge hindurch und tritt als neuer Jesus vor die Stadttore. Die Zeit der Wanderung beginnt.


[1] www.youtube.com/watch?v=doeOSXQ_pSw.

Ein Kommentar zu „Ein Anderer

  1. Es ist vielleicht vergleichbar mit berühmten Malern: ihre Bilder verstand man in der Regel auch viel später. Viele waren ihrer Zeit weit voraus.

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