Vorläufer [zum Johannestag und Domjubiläum]

Letzte Woche auf der Goethestraße in Bad Doberan: Zwischen das Motorenbrummen der vorbeifahrenden Autos, die gerade die gründerzeitlichen Villen am Straßenrand passieren mischt sich ein verdächtiges Fauchen und Schnaufen. Ein kurzes Klingeln bringt die Autos zum Stillstand. Mit einigem Getöse schiebt sich ein Schienenzug um die Kurve. Vor den sechs kleinen Fahrgastwaggons hängt die kleine schwarze Dampflokomotive der Molly-Bäderbahn. Schmutzigweißer Rauch steigt in den Himmel, man hört das Rattern der Kolben und das Quietschen der Bremsen, als der Zug an der Haltestelle zum Stehen kommt. Der Anblick des Dampfzuges vor historischer Kulisse zieht die Blicke der Passanten auf sich, gerne begleitet mit einem kleinen Lächeln. Kinder zeigen auf die Dampflok und die Erwachsenen erklären: „Schau mal, so war das einmal“.

Ja, so war das einmal. Ein bisschen Sinn für Nostalgie bringen die meisten Menschen auf. Zugleich hätten die meisten Menschen allerdings nicht mehr die Geduld, heute noch eine Reise nach München mit einem Dampfzug zu machen, bei 50 km/h Reisegeschwindigkeit in ruckeligen nicht-klimatisierten Waggons und mit ewig langen Standzeiten in den Bahnhöfen, in denen Kohlen und Wasser für die Lok aufgefüllt werden müssen. Da setzen wir uns doch lieber in einen modernen ICE. Technisch gesehen ist die Dampflok ein Vorläufer des heutigen Hochgeschwindigkeitszuges. In der Entwicklung hat sich die technikbegeisterte Menschheit Stufe um Stufe vorgearbeitet. Die Dampflok allerdings hat dieser Entwicklung den Weg bereitet. Sie bezeichnete in der Geschichte der menschlichen Mobilität einen gewaltigen Umbruch und hat so unser Gefühl für Geschwindigkeit, für das Reisen überhaupt maßgeblich verändert. Der Vorläufer ermöglicht also eine umwälzende Veränderung, auch wenn er selbst in deren eigener Dynamik wieder verschwindet. Es bleibt ein wenig Nostalgie.

Von Johannes dem Täufer wird im Evangelium gesagt: „Du wirst dem Herrn vorangehen und ihm den Weg bereiten.“ Das Evangelium präsentiert aus christlicher Sicht Johannes als den Vorläufer, als denjenigen, der den kommenden Messias ankündigt und die Weichen für die weitere Entwicklung der Heilsgeschichte stellt. Jesus übernimmt von ihm die Kernbotschaft des kommenden Gerichtes und der Umkehr, die neue Sammlung Israels aus dem Geist der Versöhnung und Vergebung. Die Zeitenwende ist da. Gott erneuert seinen Bund und er ruft gerade die scheinbar verlorenen Schafe wieder in seine Herde zurück. Als Vorläufer setzt Johannes eine Entwicklung in Gang, die nunmehr unumkehrbar ist. Zugleich verschwindet er als Vorläufer wieder in der Entwicklung. „Ich muss abnehmen, er muss wachsen“ – so legt es ihm das Evangelium in einem Wort über Jesus in den Mund. Und der christliche Festkalender greift diese Idee auf. Er setzt das Fest des Täufers auf den Tag der Sommersonnenwende. Hier beginnt im Lauf des astronomischen Jahres etwas Neues. Zugleich wird deutlich: Ab jetzt nimmt die Sonne wieder ab, die Bedeutung des Täufers tritt zurück. Johannes ist der Heilige des abnehmenden Lichtes. Am Tag der Wintersonnenwende feiern wir dann die Geburt Jesu. Sein Licht nimmt zu.

Was bleibt uns also am Johannestag? Etwas Nostalgie? Ich glaube, das ist erstmal ein angemessenes Gefühl. Die Nostalgie ist ja nicht bloß ein romantisches Empfinden. Sie ist ein Zurückgehen in der Geschichte, ein Verstehen der Vergangenheit. „So war das einmal“ und „so ist es geworden“.

Gerade an diesem Johannestag ist ein solches „Verstehen-Wollen“ und „Sich-Erinnern“ naheliegend. Der heutige Tag verknüpft sich in diesem Jahr mit der Weihe des Schweriner Doms vor 850 Jahren. Würden wir in das Jahr 1171 zurückreisen, kämen wir aus dem Staunen über die damaligen Verhältnisse kaum mehr heraus. 1160 hatte Heinrich der Löwe, der mächtige Herzog von Braunschweig seinen großen Feldzug gegen die Obotriten beendet. Der slawische Fürst Niklot wurde gestürzt und die Burg Mecklenburg erobert. Als neue Hauptstadt wurde Schwerin bestimmt, das wegen seiner strategischen Bedeutung als befestigter Herrschaftssitz besser geeignet schien, als nunmehriger Außenposten des Deutschen Reiches die Slawen auch künftig in Schach zu halten. Unter den Obotriten hatte es bereits einige Christen gegeben, die Mehrheit gerade des Herrscherhauses war bei den überlieferten religiösen Kulten verblieben. Mit den neuen Herrschern sollte nun auch das Christentum im Slawengebiet fest verankert werden. Das Land stand vor einer Zeitenwende. Schwerin wurde Sitz des mecklenburgischen Bischofs und man begann mit dem Bau einer Kathedrale. Von nun an sollte das Evangelium mit neuer Stärke und Kraft verkündet und mit dem Christentum auch der Herrschaftsanspruch des Kaisers gefestigt werden. Die Vermischung von religiösen und politischen Zielen erscheint uns heute fremd. In die Nostalgie mischt sich ein gewisses Unbehagen über die kriegerische und missionarische Ausrichtung der Mecklenburg-Mission. Die neue Kirche, der Vorgänger des heutigen Doms, soll etwa 60 Meter lang gewesen sein, deutlich kleiner als der heutige Bau aber in den Maßstäben der Zeit immer noch gewaltig. Schwerin hatte damals 500 Einwohner. Der Dom war ein Statement für die Macht des Kaisers, aber auch für die Bedeutung des christlichen Glaubens.

„Ja, so war das einmal“. Aus der Sicht der heutigen Zeit schauen wir in eine fremde Welt. Mit dem Blick von heute wird sich niemand in diese Zeit zurückwünschen. Aber gerade heute scheint es wichtig, an die Geschichte zu erinnern. Der Dom ist ein unübersehbares Zeugnis dieser Vergangenheit. Was sehen die Menschen, die heute hierherkommen in ihm? Mit Blick auf die realen Zahlen der Christen in dieser Stadt wird man sagen müssen, dass die durch die Größe des Baus behauptete Bedeutung des tatsächlich gelebten christlichen Glaubens unangemessen ist. So wie der Dom im Laufe seiner Geschichte gewachsen ist, so müsste er eigentlich wieder schrumpfen.

Zugleich repräsentiert er auf der symbolischen Ebene allerdings immer noch einen gewaltigen Anspruch. Die Mission des Johannes bleibt bestehen. Er wandte sich vor allem an die vergessenen oder auch aufgegebenen Menschen des jüdischen Volkes. Seine Botschaft war: „Vor Gott ist niemand verloren“. Zugleich mahnte er die Ungerechtigkeit und die Verwerfungen seiner Zeit an. „Vor Gott muss jeder Rechenschaft über sein Tun ablegen“. Zum dritten wusste er um seine Vorläufigkeit: „Ich weise nur auf Christus hin – das eigentlich Werk geht nicht von mir, sondern von ihm aus.“

Man kann Johannes vielleicht in drei Worten zusammenfassen: 1. „Anziehen“ – also eine Verheißung bringen, eine Attraktion für alle sein, die auf der Suche sind. 2. „Prüfen“ – den Menschen einen Anstoß zu geben, sich vor einem höheren Anspruch in Frage zu stellen, das Leben zu bedenken und immer wieder zum Guten ausrichten. 3. „Hinweisen“ – die Schwelle zum Glauben niedrig halten, ein Angebot formulieren, sich auf Gott in seinem Sohn Jesus Christus neu einzulassen. Ich denke, es könnten drei Worte sein, die für den heutigen Dom kennzeichnend sind. Am Turmportal findet sich zur Zeit eine leuchtende Schrift. Sie gehört zur Kunstausstellung, die das Schweriner Museum anlässlich des Domjubiläums organisiert hat. Der Schriftzug lautet: „Milch und Honig“. „Milch und Honig“ war im Alten Testament ein anderes Wort für das „Gelobte Land“. Vom Berg Nebo aus schaute Moses in das Land „in dem Milch und Honig fließen“. Sein Blick ging vom heutigen Jordanien über das Tote Meer und den Jordan. Dort unten, an dieser Stelle, an der Pforte des gelobten Landes taufte Johannes. Er stand am Eingang, also vor dem Neueinzug in das gelobte Land. Bei allem Respekt: Der Schweriner Dom ist nicht das Gelobte Land. Aber er ist vielleicht eine der Pforten für das Leben in Fülle, das Gott uns verheißt. Der heutige Tag bleibt nicht bei Nostalgie stehen. Das „So war es“ darf auch ein hoffnungsvolles „so wird es werden“ enthalten.

3 Kommentare zu „Vorläufer [zum Johannestag und Domjubiläum]

  1. Ich würde gern die Quelle wissen, die die Grundsteinlegung des Schweriner Domes auf den 24. Juni 1171 belegt.
    M.W. ist die Bewidmung des Bistums durch Heinrich den Löwen auf den 9.September 1171 belegt. In der SVZ las ich vor einiger Zeit, dass vermutlich am Tag vorher, an Mariae Geburt, die Weihe eines Vor-Vorgängerbaus erfolgt sei.

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  2. Liebe Frau Klein, danke für den Hinweis. Tatsächlich wird es sich wohl um die Weihe des Domes (oder von Teilen des Domes) gehandelt haben. Der 24.06. ist nicht der Weihetag. Ich habe das im Text nachgebessert.

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    1. Nun habe ich auch noch weiter recherchiert: Der Vorgängerbau des heutigen Domes (und von dem reden wir, wenn wir von einer Domweihe 1171 reden) wurde vermutlich am 8. September 1171 geweiht, denn es existiert die von Heinrich dem Löwen am 9. September 1171 ausgestellte Bewidwungsurkunde für das Bistum. Die Weihe des jetzigen Domes geschah am 15. Juni 1248, darum hat 1948 auch die 700-Jahrfeier des Domes stattgefunden. Der 15. Juni ist der St. Vitus Tag – sehr vermutlich als Weihetag auserwählt, um den Svantevit der Ruganer zu ersetzen, was ja ein beliebter „Trick“ der Missionare war, ortsüblich verehrte „heidnische“ Personen durch christliche Heilige mit ähnlich klingenden Namen zu ersetzen —

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